Der Marokkaner Brahim Saadoune auf einem Flugblatt an einem Laternenpfahl

Der junge Marokkaner Brahim Saadoune soll als vermeintlicher Söldner hingerichtet werden - so lautet das Urteil des Obersten Gerichts der separatistischen "Volksrepublik Donezk". In Kiew und im marokkanischen Rabat kämpfen seitdem Freunde und Angehörige darum, dass Brahim nicht vergessen wird. Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Am Maidan, dem berühmten Platz in Kiew, lächelt er von einem Laternenpfahl: Brahim Saadoune. Ein Flugblatt mit zwei Fotos von ihm steckt in einer Klarsichthülle. Auf einem hat der junge Marokkaner Militärkleidung an, einen Kopfhörer auf und streckt den rechten Daumen in die Höhe. "#savebrahim" steht darüber, "Rettet Brahim". Brahim ist in der sogenannten "Volksrepublik Donezk" in der Ostukraine, die seit Jahren von prorussischen Separatisten besetzt ist, im Krieg festgenommen und als vermeintlicher Söldner zum Tode verurteilt worden. Seine Freunde in der Ukraine möchten mit der Kampagne "#savebrahim" auf das Schicksal des 21-Jährigen aufmerksam machen.

Sein bester Freund Muiz, der einer der treibenden Kräfte hinter der Kampagne ist, erklärt die Aktion: "Die Plakate hängen nicht nur in Kiew, sondern auch in Odessa, in Lviv, in Berlin und Wien - überall. Wir haben außerdem eine Instagram-Kampagne gestartet. Die Medien haben am Anfang immer nur die Briten Aiden und Shaun erwähnt. Ich dachte: Das ist nicht fair! Dann haben wir richtig losgelegt. Und auf einmal war Brahim überall!"  

Die Geschichte einer Freundschaft

Muiz sitzt in einem Straßencafé in Kiew und nippt an seinem Kaffee. Auch er ist Ausländer, woher er kommt, will er aber nicht verraten. Aus Sicherheitsgründen, sagt er. Auch sonst hat er viel mit Brahim gemeinsam: Sie sind beide Anfang 20 und Fans von elektronischer Musik. In einem Club in Kiew lernen sie sich kennen und freunden sich an. Bald verbringen sie fast jeden Tag zusammen. "Er ist jemand, der sich sehr um andere kümmert. Und er ist sehr laut. Er schreit nicht, er ist einfach nur laut. Dadurch hebt er sich von anderen ab. Er wirkt wie einer, der in der Zukunft eine Führungsrolle übernehmen wird. Jemand besonderes. Man will einfach mit ihm befreundet sein."

Aber bald lernt Muiz auch die stillere, dunklere Seite von Brahim kennen. Der Marokkaner leidet darunter, dass er in Kiew wenige Freunde hat, er fühlt sich isoliert und ist unglücklich. Brahim ist einer von vielen jungen Marokkanerinnen und Marokkanern, die in die Ukraine kommen, um hier zu studieren. Er schreibt sich für Luft- und Raumfahrttechnik ein, schmeißt im Herbst vergangenen Jahres aber hin, erzählt Muiz.

Brahim bricht das Studium ab und geht zur Armee

"Das hat mich überrascht. Er hatte immer gesagt: 'Ich will mir in meinem Leben beweisen, dass ich zu bestimmten Dingen in der Lage bin. Dazu gehörte, in die Armee zu gehen.' Ich dachte: Das sollte man nun vielleicht nicht gerade in der Ukraine machen, die Lage ist nicht stabil." Brahim habe aber darauf bestanden, diese Erfahrung machen zu wollen. "Wir standen uns damals nicht so nah, dass ich seine Entscheidung hätte beeinflussen können. Aber er war glücklich damit."

Und so sei Brahim dann auch der ukrainischen Armee beigetreten. Und, wie Muiz betont: nicht als ausländischer Söldner, wie es ihm nun vorgeworfen wird, sondern als regulärer Soldat der ukrainischen Streitkräfte. Als Anfang des Jahres die Zeichen auf Krieg stehen, macht sich Muiz Sorgen – und versucht, seinen Freund erneut davon zu überzeugen, die Armee zu verlassen. Ohne Erfolg. Die beiden schreiben sich immer wieder Textnachrichten, ein-, zweimal in der Woche. Dann hört er wochenlang nichts mehr von ihm. Bis Muiz ein Video von seinem Freund im Internet findet, gefilmt von einem russischen Influencer: "Erstmal habe ich ihn gar nicht erkannt. Er sah furchtbar aus. Dann las ich ‚Wir haben einen Araber geschnappt‘. Und ich dachte: Ok, ich kenne nur einen arabischen Typen in der Armee. Und es ist mein bester Freund! Ich war einerseits besorgt darüber, dass er nicht in guten Händen ist, aber gleichzeitig glücklich, dass er am Leben ist."

Hilfe aus der Ferne

Seit Monaten versucht Muiz nun, aus der Ferne etwas für seinen Freund in Gefangenschaft zu tun. Er hat sich an Menschenrechtsgruppen gewandt, an ukrainische und an marokkanische Behörden. Doch bisher ist nichts zu Brahim Gunsten passiert. Im Gegenteil: Vor einigen Tagen hat die selbsternannte Republik Donetsk ein Moratorium zur Todesstrafe wieder aufgehoben. Brahim und seine Mitstreiter müssen also weiterhin das Schlimmste befürchten. "Das war eine sehr traurige Neuigkeit für mich. Aber ich habe mir vorgenommen, nicht zu niedergeschlagen zu sein, denn sonst würde ich zusammenbrechen und nicht in der Lage sein, irgendwas zu machen", sagt Muiz.

Kontakt zu Brahim hat er weiterhin keinen. Immerhin sollen Brahim die Briefe von seiner Schwester ausgehändigt werden, heißt es. Daher hat er sich an die Schwester gewandt: "Ich habe sie gebeten, ihm zu schreiben, dass er eine riesige Unterstützung hat. Er fühlte sich damals so nutzlos und glaubte, keine Freunde zu haben. Und jetzt hat er Menschen hinter sich, die Berge für ihn versetzen. Ich hoffe, dass er das weiß. Denn das würde ihn stärker machen."

Ein Lebenszeichen via Video

Brahim selbst hat sich in einer Videobotschaft zu Wort gemeldet, die er nach Marokko geschickt hat: "Hallo Mama und Papa, mir geht’s gut. Macht euch keine Sorgen um mich. Ich hab‘ gemacht, was ich machen musste. Mama, hab‘ keine Angst um mich - alles wird gut.” In dem Video sieht man, dass sein Kopf kahl rasiert ist, seine Miene ist ernst, er hat dunkle Schatten unter den großen Augen. Der 21-Jährige Brahim wird in Haft von einem russischen Journalisten interviewt. Tausende Kilometer weiter erhält Imane Saadoune eine Nachricht auf ihr Handy. Sie ist Brahims ältere Schwester und lebt in Finnland. "Ich war gerade fast eingeschlafen, als einer meiner Freunde mir ein Video geschickt hat. Ich dachte, es sei nur ein Video von ihm, in dem er sagt, dass es ihm gut geht. Da ich für eine Weile den Kontakt zu ihm verloren hatte, habe ich nicht genau verstanden, was da drüben passiert - doch dann wurde mir klar: Er ist in Gefangenschaft."

Bis zu den Videoaufnahmen ist der Fall in Marokko weitgehend unbekannt. Imane und ihre Familie versuchen, die Behörden zu erreichen und an Informationen zu kommen. "Die marokkanischen Behörden waren von Anfang an so still. Und das Schlimmste ist, dass ich das Gefühl habe, dass sie versucht haben, seinen Fall vor allen zu verbergen." Wenn sie die Botschaft in der Ukraine angerufen und seinen Namen genannt haben, wäre so getan worden, als ob er nicht existieren würde. "Man konnte die Angst in ihren Stimmen hören. Ich verstehe nur nicht warum. Aber die marokkanischen Behörden haben bisher nichts unternommen. Nichts. Absolut gar nichts. Nicht einmal ein Anruf, um uns zu sagen, dass wir stark bleiben sollen,” berichtet Imane.

Erst spät bestätigen die Behörden öffentlich, dass Brahim als Mitglied der ukrainischen Armee gefangen genommen wurde. Dabei weisen sie darauf hin, dass er von einer Organisation inhaftiert worden sei, die weder von den Vereinten Nationen noch von Marokko anerkannt werde.

Ein Marathon beginnt

Marokkos zögerliches Verhalten könnte auch am Verhältnis zu Russland liegen. Beide Länder unterhalten unter anderem enge wirtschaftliche Beziehungen und Marokko versucht sich seit Beginn der russischen Invasion bei den Vereinten Nationen neutral zu verhalten. Bis dato hat das Königreich den Angriff Russlands auf die Ukraine nicht verurteilt.

Weil die Unterstützung durch die Behörden fehlt, gibt Brahims Vater Taher Saadoune Pressekonferenzen. Dort wendet er sich an Marokkos Regierung, an die Verantwortlichen in Donezk, sogar an Putin: "Ich habe überhaupt keinen Anruf erhalten, nicht vom Außenministerium, gar nichts. Diese Pressekonferenz ist wichtig, damit internationale Organisationen sich des Falls dieses 21-jährigen Jungen annehmen - der gezwungenermaßen an vorderster Front war. Er wurde von Russland festgenommen, also ist Russland für uns der erste Ansprechpartner – speziell der Chef der Streitkräfte, Wladimir Putin."

Unterstützung und Hass als Reaktion

Menschenrechtsorganisationen bezeichnen das, was in der separatistischen "Volksrepublik Donezk " passiert, als Schauprozess. Sie kämpfen gemeinsam mit den Angehörigen der Gefangenen um Öffentlichkeit. Brahims Schwester Imane gibt immerfort Interviews für Funk und Fernsehen, in unterschiedlichen Sprachen, postet in sozialen Medien Kinderbilder von ihrem Bruder. Über den Hashtag #savebrahim, den seine Freunde in der Ukraine gestartet haben, erhalte die Familie Zuspruch - aber nicht nur: Bei einem Blick in soziale Medien in Marokko wird Brahims Schwester schlecht - sie klagt über Hass, sogar über Applaus zu seinem Todesurteil.

"Das Traurigste ist, dass sich nicht einmal seine eigenen Landsleute um ihn kümmern und zum Teil auch noch seine Hinrichtung fordern. Manche Leute sind nett, teilen den Hashtag und sagen ein paar nette Worte. Aber viele, viele Menschen sind sogar froh, dass er so sterben wird. Einige von ihnen gehen so weit zu sagen: ‚Wenn er dort nicht stirbt und ich ihn auf der Straße sehe, bin ich bereit, ihn zu töten.‘" Dieser Hass soll teilweise daher rühren, dass Brahim sich in einem Video nicht klar als Muslim bekannt habe, sondern als Agnostiker. So richtig nachvollziehbar sei das alles aber nicht, sagt Imane. Vor allem ihrer Mutter würden die Kommentare im Netz das Herz brechen: "Diese Situation hat unsere Familie zerbrochen. Meine Mutter ist einfach so krank geworden, sie kann sich kaum bewegen. Sie denkt Tag und Nacht an ihn, auch weil er das Nesthäkchen der Familie ist.” Imane fürchtet, dass Brahim von den Separatisten still und heimlich erschossen wird. Für sie und ihre Familie fühle sich daher jeder Tag an wie ein Rennen gegen die Zeit. "Ich will ihn einfach zurückhaben. Das ist mein einziger Wunsch.”

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