Zehn Jahre nach der Aufdeckung des NSU "Ein sehr, sehr tiefgreifender emotionaler Schock"

Neun Menschen mit Migrationshintergrund hat die rechtsextreme Terrorgruppe NSU ermordet. Das Vertrauen, hier sicher leben zu können, ist bei vielen Migrantinnen und Migranten in Hessen damals gebrochen. Wie fühlen sie sich heute? Ein Stimmungsbild.
Sina nenne ich sie, denn sie möchte nicht, dass ihr Name öffentlich wird. Eine junge Deutsche aus Frankfurt mit türkischer Abstammung. An die Terrorgruppe des NSU erinnert sich die junge Frau noch, aber viel näher geht ihr das Attentat in Hanau vor eineinhalb Jahren, das sie als ein weiteres rassistisches Verbrechen sieht - nach den Morden des NSU, den Anschlägen gegen Walter Lübke und auf die Synagoge in Halle. "Es ist ein sehr, sehr trauriges Thema und betrifft mich unmittelbar in meinem Alltag", sagt Sina. "Geographisch liegt es ja sehr nah an Frankfurt, ich habe dort zwei Jahre verbracht. Es betrifft mich wirklich sehr, es ist schockierend, es ist überwältigend gewesen, ich stand in einer Art Ohnmacht."
Das Vertrauen, in Deutschland sicher leben zu können, ist bei ihr gebrochen, besonders seit den Morden in Hanau, aber auch denen des NSU. "Es kann von anderen Personen, die nicht betroffen sind, übertrieben klingen, aber ich habe Angst. Wirklich." Sie habe erst am Tag zuvor Rassismus-Erfahrungen gemacht, als sie in der Bahn gesessen und ein Paar neben ihr sich weggesetzt habe. "Dann kamen Kommentare wie 'ja, wir müssen unsere Fluchtwege hier offenhalten, falls was passiert.'" Das Paar macht auf sie den Eindruck, als sei es durchschnittlicher Mittelstand, also nicht Teil einer Randgruppe oder besonders ungebildet. Der ganz normale Alltag oder besser gesagt: Wahnsinn: "Was das Paradoxe ist: Ich fühl mich hier selber nicht sicher, aber andere Personen fühlen sich durch meine Anwesenheit nicht sicher."
Angstklima begann in der Ära Kohl
Allein wegen ihres Aussehens oder ihres Namens wird sie nicht nur nicht als Deutsche gesehen, sondern auch von einigen offenbar als gefährlich empfunden. Was also ist los in Deutschland? Woher die Angst gegen das Fremde? Woher der Rassismus, wie man hier hört, mitten im weltoffenen Frankfurt, im wirtschaftsstarken, vielfältigen Hessen? Atila Karabörklü ist Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinden in Deutschland und in Hessen. Nach seiner Meinung hat das Angstklima mit der Politik Helmut Kohls in den 80er Jahren angefangen: "Der hat hat ja 1982 ganz offen und öffentlich gesagt, wir haben Einwanderer aus Ländern, wie zum Beispiel der Türkei, die sich nicht assimilieren lassen, und die müssen wieder zurückgeschickt werden."
Danach entwickelt sich der Rassismus in Deutschland schleichend, findet er, erst latent, dann intellektuell gepusht von den Thesen Thilo Sarazins. Und mit dem 11. September 2001 und dem Flug in die Twintowers in New York kommt der Wendepunkt, an dem die Muslime weltweit unter Generalverdacht von Gewalttaten gestellt werden.
Kein Vertrauen mehr in Polizei und Sicherheitsbehörden
Als auch in Hessen dann Ende der 90er Jahre über die Frage diskutiert wird, ob Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist, äußert sich Ministerpräsident Roland Koch gegen die Möglichkeit, Migrantinnen und Migranten zwei Staatsbürgerschaften zu ermöglichen, auch wenn es das zu diesem Zeitpunkt für bestimmte Herkunftsländer schon gibt. Eine weitere Abschottungspolitik gegen Fremde, findet Karabörklü. Die NSU-Morde waren für ihn persönlich "ein sehr, sehr tiefgreifender emotionaler Schock, das verarbeite ich noch, und ich glaube, viele Menschen aus der türkischen Community denken auch so", sagt Karabörklü.
Vor allem den staatlichen Sicherheitsbehörden und der Polizei trauen viele Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr. Denn dass bei allen rassistischen Attentaten der letzten Jahre immer nur Einzeltäter schuld sein sollen, bezweifelt er: "Das kann doch nicht sein! Es muss doch ein Netzwerk geben. Das hat sich ja erweitert auf Menschen, die demokratisch handeln, wie Lübcke, die humanistisch denken, die offen sind, die kritisch mit Rechtsextremismus und Rassismus umgehen, die werden leider unter Druck gesetzt, und zwar mit Morddrohungen."
Unwort "Dönermorde"
Maurella Carbone, Lehrerin und Mitglied der Kommunalen Ausländervertretung in Frankfurt, ist geschockt, dass die Morde, die die Mitglieder des NSU begangen haben, lange als "Dönermorde" bezeichnet werden. Noch bevor man weiß, wer überhaupt schuld ist, wird ein entwürdigender Begriff verwendet für Menschen, die kaltblütig ermordet werden. Und es bleiben bis heute Fragen offen. Wie zum Beispiel, warum beim NSU-Mord in Kassel ein Mitarbeiter vom Staatssicherheitsdienst in der Nähe war.
Das schafft Misstrauen, das nicht so einfach aus der Welt zu schaffen ist. Beschwichtigungen, es handele sich um Einzeltäter, bringen dieses Vertrauen nach so vielen rassistischen Gewalttaten nicht zurück: "Die Bevölkerung ist auch nicht doof. Das ist die fatale Konsequenz einer Unfähigkeit auch der Politik, die Bürgerinnen und Bürger als erwachsene und reife Personen anzunehmen.“
Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse?
Fazit: Viele Menschen, die ihre Wurzeln nicht in Deutschland haben, sind immer noch Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Und sie sind seit den NSU-Morden sehr verunsichert, leben in Angst und wünschen sich mehr Offenheit und mehr Auseinandersetzung seitens der Politik zum Thema Rechtsradikalimus und Rassismus in Deutschland. Vor allem die rechtsradikalen Strömungen bei der Polizei haben diese Angst befeuert, auch das Gefühl, nicht mehr geschützt zu werden.
Dr. Hüseyin Kurt, Mitglieder der Kommunalen Ausländervertretung Frankfurt und Migrantenvertreter beim Frankfurter Verband, warnt davor, die Attentate der letzten Jahre in Deutschland als Einzeltaten abzutun. Sein Appell: "Deutschland steht ja auch historisch unter besonderer Verantwortung. Da bleibt ein bitterer Beigeschmack. Auch wenn es Einzelfälle sind, da ist die Gefahr, dass da doch Nachahmergruppen sich etablieren können. Die müssen wirklich die volle Härte des Rechtstaates zu spüren bekommen."