Michael Caputo

Caputo ermittelt seit zwölf Jahren in Fällen von Kindesmisshandlung. Dabei geht es um "Gefahrenabwehr" und darum, die Misshandlungen gerichtsfest zu machen, damit Täter bestraft und Kinder in Sicherheit gebracht werden können. Mit uns hat der sonst sehr pressescheue Kriminalhauptkommissar über seine Arbeit gesprochen.

Bezeichnend für den 40-jährigen Frankfurter Kriminalhauptkommissar Michael Caputo ist, dass es nicht eine einzige Presseveröffentlichung über ihn gibt. Er ist extrem pressescheu, hat aber eingewilligt, Mariela Milkowa und Stefan Ehlert von hr-iNFO zu unserer Recherche "Opfer ohne Stimme – wie wir unsere Kinder vor Gewalt schützen" ein Interview zu geben. Obwohl der Öffentlichkeit unbekannt, hat Caputo unter professionellen Kinderschützern in Frankfurt einen hervorragenden Ruf, weil er ein Netzwerker ist, der gern alle beteiligten Institutionen an einen Tisch bringt.

"Wer sich kennt, arbeitet besser zusammen", ist sein Credo. Seit zwölf Jahren gehört der zweifache Vater dem Frankfurter Kommissariat K13 an. Seit sechs Jahren ist Caputo Leiter einer dreiköpfigen Ermittlungsgruppe "Gewalt gegen Kinder", zurzeit in einer Fortbildung. Die Kinder, denen er helfen soll, haben die Misshandlung überlebt.

Für ihn geht es bei seiner Arbeit um "Gefahrenabwehr" und darum, eine Misshandlung auch gerichtsfest nachzuweisen, damit die Täter bestraft und Kinder in Sicherheit gebracht werden können. Er liebt den Kampfsport Kung Fu und lernt in seiner Freizeit Italienisch, um mit Verwandten in Italien sprechen zu können.

hr-iNFO: Wir haben Sie im Präsidium, Dezernat K13, im 5. Stock besucht. Uns ist aufgefallen, da sieht's gar nicht aus wie bei der Polizei, eher wie beim Kinderpsychologen?

Caputo: Nun, Sie haben auch gesehen, das ist ein sehr kleines Kommissariat, gerade mal ein Gang, und es sieht nicht aus wie bei der Polizei, weil wir natürlich eine zivile Truppe sind …


hr-iNFO: Das heißt, Sie haben keine Uniform an. Man würde Sie jetzt nicht sofort als Polizeihauptkommissar erkennen?

Caputo: Nein, soll man ja auch nicht unbedingt. Also wenn's nötig ist, geben wir uns natürlich als Polizei zu erkennen, aber gerade, wenn wir jetzt vom Kinderschutz reden und zum Beispiel in Kindergärten unterwegs sind, Kinderheimen, Schulen, ist es auch nötig, dass wir zivil auftreten. Wir haben sehr viel mit Kindern zu tun, die gehen bei uns ja zu Vernehmungszwecken oder was auch immer ein und aus. Und die sollen sich wohlfühlen. Deswegen haben wir es auch ein bisschen kindlich eingerichtet.

hr-iNFO: Welcher Fall von Kindesmisshandlung hat Sie denn zuletzt beschäftigt?

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„Wir haben schwerwiegendere Fälle, wo wir auch mal schlucken müssen.“ Michael Caputo Michael Caputo
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Caputo: Wir haben schwerwiegendere Fälle, wo wir auch mal schlucken müssen und sagen: 'Okay, das Kind wurde arg misshandelt oder schwerst misshandelt', was dann auch sehr intensive Ermittlungen nach sich zieht, umfassend. Oder wir hatten den Fall, als wir ein vier Monate altes Kind der Mutter entzogen, eine alkoholkranke Mutter, die einfach nicht in der Lage war, dieses Kind zu pflegen.

Das Jugendamt wollte das Kind in Obhut nehmen. Das scheiterte, weil die Mutter geflohen war, samt Kind. Wir konnten nicht ermitteln, wo sie war. Das war sehr arbeitsintensiv, weil die Fahndung dann sehr auf das Kind konzentriert ist. Und wenn sie da nicht viele Ansatzpunkte haben und auch die Verwandtschaft und die Bekannten nicht mitmachen, wird's sehr schwierig. Wir haben es aber geschafft, das Kind zurückzubekommen aufgrund der Fahndungsmaßnahme, aber das zog sich Wochen hin.

"Wir wollen, dass für die Zukunft des Kindes etwas passiert"

hr-iNFO: Wie gehen Sie vor, wenn Sie zu einer Familie gehen? Haben Sie eine Schusswaffe dabei, sind Sie vorbereitet auf die Akte der Familie? Was ist der Weg, den Sie nehmen?

Caputo: Wir gucken, ist die Familie bekannt? Wir nehmen Kontakt auf zu den anderen Ämtern und Institutionen, die vielleicht Kenntnis haben könnten, damit wir Hintergrundinformationen haben. Wenn wir dorthin fahren, wollen wir auch gerne den Tatort sehen. Eine Waffe habe ich dabei, aber die trage ich verdeckt, das kriegt gar keiner mit. Die Arbeit vor Ort beginnt mit Gesprächen, also wir ermitteln, wir vernehmen, nennt sich das.

Wir hören jeden an, der irgendwie damit etwas zu tun hatte, Nachbarn, direkte Verwandte, Bekannte. Der Idealfall wäre natürlich, wenn wir mit dem Kind selbst auch sprechen könnten, wenn es irgendwie möglich ist, dass wir das Kind auch vernehmen. Das hat genauso ein Recht gehört zu werden. Das ist aber die größte Hürde, auch rechtlich. Am Tatort selbst dokumentieren wir die Wohnung. Wir gucken uns sehr genau an, wie sieht's da aus? Wie sind die Umstände? Kann das so passiert sein, wie es uns so erzählt wird?

hr-iNFO: Zum Beispiel?

Caputo: Nehmen wir so einen Klassiker: Das Kind ist vom Wickeltisch gefallen und dann landet es in der Kinderschutzambulanz. Dann sagen die Ärzte aber: 'Die Verletzung passt nicht ganz zu dem einfachen Hinfallen oder Runterfallen vom Wickeltisch.' Dann fahren wir vor Ort.

hr-iNFO: Nach welchen Hinweisen gucken Sie da? Machen Sie auch mal einen Kühlschrank auf?

Caputo: Ja. Wir gucken: Ist Nahrung da für ein Kind? Ist ein Kinderzimmer da, ist ein Bett da? Wir haben Fälle, da haben die Kinder auf Matratzenlagern geschlafen in irgendwelchen Zimmern. Ist Kinderspielzeug da, ist das Kind schulpflichtig, ist ein Tisch da, kann ein Kind überhaupt seine Hausaufgaben hier machen? Das sind Sachen, die gucken wir uns dann sehr genau an.  

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„Wir gucken: Ist Nahrung da für ein Kind? Ist ein Kinderzimmer da, ist ein Bett da?“ Michael Caputo Michael Caputo
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Wir dokumentieren sie natürlich auch, wir fotografieren das, um es auch weiterzugeben. Zum Beispiel sagen wir, eine Wohnung, die ist völlig kindungerecht, also es geht nicht. Dann geben wir das weiter ans Jugendamt, damit es seine Maßnahmen treffen kann. Wir wollen ja auch, dass für die Zukunft des Kindes etwas passiert.

"Das geht durch alle Schichten"

hr-iNFO: In welchen Milieus spielen sich solche Fälle ab?

Caputo: Das können Sie nicht eingrenzen. Also ich bin so lange dabei und ich sage, das geht durch alle Schichten. Da sind wir nicht bei den Sozialfällen, sondern das geht hoch in alle Ebenen, auch dorthin, wo Geld ist. Da kann man sich natürlich auch einen bestimmten Wohnraum leisten, das ist klar. Aber wenn es um Kindesmisshandlung geht, das passiert überall.

hr-iNFO: Manche Kinder stehen sogar bei Ihnen vorm Präsidium. Was sind das für Fälle?

Caputo: Wir haben es tatsächlich vermehrt gehabt in den letzten zwei Jahren, dass auch Kinder - und da reden wir jetzt von einem Alter von elf, zwölf, die schon recht selbständig sind - tatsächlich zu uns kommen, an die Tür klopfen im Präsidium oder im Revier und sagen: 'Ich möcht' nicht mehr nach Hause, meine Eltern schlagen mich' oder 'Meine Mutter schlägt mich'.

Die werden dann direkt zu uns gebracht ins Kommissariat, dann hören wir uns eben mal an, was da los ist, und dann leiten wir von da aus die Maßnahmen ein. Kinder schildern, dass sie vielleicht regelmäßig geschlagen werden, eventuell können sie auch Verletzungen vorweisen. Meistens gibt's irgendein Ereignis, das das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

hr-iNFO: Das ist mutig. Normalerweise ist es ja so, dass Kinder ihre Eltern lieben und auch zu Hause bleiben wollen. Geraten die nicht in Loyalitätskonflikte?

Caputo: Das ist so, tatsächlich. Ich weiß nicht, welche Beweggründe dahinterstehen, aber der Druck muss so hoch sein, dass man tatsächlich zur Polizei geht und seine eigene Familie anzeigt. Aber wenn ein Kind kommt und sagt: 'Ich will nicht mehr nach Hause', dann hat es ja den eigenen Willen geäußert, und da hat das Kind auch das Recht, in Obhut genommen zu werden, nicht durch uns, aber durch das Jugendamt.

hr-iNFO: Wie werden Sie mit all dem fertig, was Sie da erleben?

Caputo: Naja, Sie haben uns ja zum Teil kennengelernt, wir sind ein sehr familiärer Haufen, verstehen uns untereinander, wir sitzen oft zusammen und wenn's mal doch einen etwas härteren Fall gab, dann reden wir einfach. Dann sitzen wir in unserem Räumchen, und dann wird sich auch mal ausgetauscht. Und das hilft.

hr-iNFO: Ich stelle mir vor, Sie sitzen hin und wieder mit ihren Kindern auf dem Spielplatz oder haben das früher gemacht. Wenn Sie sich da umgucken, sehen Sie da überall potenzielle Täter rumlaufen?

Caputo: Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Ich hab sicher einen anderen Blick auf Menschen durch die Arbeit, ganz klar. Weil wir halt auch viel mit Menschen zu tun haben, quasi ständig, sowohl mit Opfern, als auch Tätern. Aber ich bin jetzt nicht paranoid, dass ich auf Spielplätzen oder Schulhöfen rumstehe und genau gucke, welcher Mann beobachtet vielleicht zu lange irgendein Kind, ganz im Gegenteil.

Ich bin da sehr entspannt, weil ich eben auch die Fälle kenne, die wir bearbeiten und ich so vom Stadtbild auch weiß, dass nicht überall eine Gefahr lauert für Kinder hier in Frankfurt, ganz im Gegenteil. Aber auf der anderen Seite, wenn ich etwas Verdächtiges wahrnehme, scheue ich mich auch nicht, die Person anzusprechen.

"Gewaltfreie Erziehung ist das A und O"

hr-iNFO: Gewalt als Erziehungsmittel ist seit 2000 verboten. Aber noch immer kursiert der Spruch "Ein Klaps hat noch niemanden geschadet".

Caputo: Gewaltfreie Erziehung ist das A und O. Wir erleben die Fälle vom kleinsten Klaps bis zu den schwersten Misshandlungen. Das muss man auch unterschiedlich beurteilen. Die Fälle werden jetzt strafrechtlich nicht alle zu einer Anklage führen, aber nichtsdestotrotz landen sie bei uns.

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hr-iNFO: Heute nutzen Eltern ihre Handys, um ihre Kinder relativ engmaschig zu überwachen. Ist das auch schon Kindesmisshandlung?

Caputo: Das ist eine gute Frage. Mir ist noch kein Fall bekannt, dass jemand das angezeigt hätte. Verletzung der Privatsphäre, Kontrolle, Eingriff in die Persönlichkeitsrechte - auch Kinder haben solche Rechte. Sehen sie, ich muss das strafrechtlich beurteilen. Und wenn ich das jetzt nach dem Strafrecht mache, wüsste ich jetzt nicht, unter welchem Paragrafen ich das strafrechtlich subsummieren sollte. Rein vom Gefühl her werden sie sagen: 'Wenn ich jetzt ständig überwacht werde, das ist nicht in Ordnung', okay. Aber ich denke nicht, dass das strafrechtlich relevant ist.

hr-iNFO: Wir hatten im vergangenen Jahr 143 tote Kinder in Deutschland in Folge von Kindesmisshandlung. Wir haben mehr als 20.000 Fälle von schwerer Misshandlung. Kriegen wir eigentlich alles mit?

Caputo: Also die Dunkelziffer ist mit Sicherheit sehr, sehr hoch. Das, was bei uns ankommt, ist mit Sicherheit nur die Spitze. Davon bin ich überzeugt. Also, was hinter verschlossenen Türen passiert, das bekommen wir nicht mit. Nein!

"Es müsste mehr gemeldet werden"

hr-iNFO: Was soll ich tun, wenn ich mitbekomme, dass ein Kind misshandelt wird?

Caputo: Also man sollte nicht selber tätig werden und eingreifen. Sich selber auf keinen Fall in Gefahr bringen. Aber dafür gibt's die Notrufnummer: 110. Warum nicht?

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Lieber einmal zu viel anrufen, wenn es um Kinder geht. Was wird passieren? Die Schutzpolizei wird kommen, wird durchaus mal nachsehen oder mal anklopfen und sich einen Eindruck machen.

hr-iNFO: Was würden Sie sich persönlich wünschen, damit Kinder besser geschützt werden? Etwa von anderen Ämtern oder Kinderärzten?

Caputo: Dass dort viel mehr Mut vorhanden ist, schwerwiegende Dinge zu melden. Nicht wegzuschauen! Das würde ich mir tatsächlich wünschen, dass viel mehr gemeldet wird.

hr-iNFO: Wie wichtig ist Ihnen, dass ein Täter auch wirklich verurteilt wird?

Caputo: Wenn ein Fall mit einer Verurteilung zum Abschluss führt, kann ich das als Erfolg ansehen. Wichtiger ist, dass wir den Sachverhalt klären und feststellen, dieses Kind wurde so und so geschlagen, möglicherweise von dem einen oder möglicherweise von dem anderen Elternteil. Und wenn das so ist, kann ich das letztendlich auch an die weiteren Ämter geben. Also ans Jugendamt bis hin zum Familienrichter, und das wird hoffentlich zur Folge haben, dass dieses Kind eventuell nicht mehr in diese Familie zurückmuss. Das ist viel wichtiger als eine Verurteilung am Ende.

Sendung: hr-iNFO, 14.5.2018, 6.10 Uhr