Zu wenige Kinderschutzambulanzen "Es fehlt die Kompetenz"

Nur in wenigen deutschen Kinderkliniken gibt es Kompetenzzentren in Sachen Kindesmisshandlung. Die Experten dort sind darauf spezialisiert, Misshandlung zu erkennen. Was können Kinderschutzambulanzen besser als niedergelassene Kinderärzte? Und warum gibt es nur so wenige?
War es eine Ohrfeige oder ist das Kind tatsächlich gestolpert und gegen die Badewanne geknallt? Solche Fälle werden in der Kinderschutzambulanz systematisch untersucht. Marco Baz Bartels ist Oberarzt der Frankfurter Kinderschutzambulanz. Ihre Aufgabe sei es, "Dinge abzuklären, die unter dem Verdacht stehen, nicht so entstanden zu sein, wie wir sie häufig erzählt bekommen. Und das ist auch etwas, was wir von Anfang an kundtun", sagt er.
90% der Misshandlungsfälle in Europa rutschen durch
Das kann kein niedergelassener Kinderarzt und auch im normalen Klinikalltag ist das kaum zu leisten. In Europa rutschen 90 Prozent der Misshandlungsfälle durch, sagt die Weltgesundheitsorganisation WHO. In Kinderschutzambulanzen passiert das nicht. Denn hier werden Kinder und Jugendliche von einem ganzen Team aus Experten untersucht: Neurologen, Gynäkologen, Chirurgen und Rechtsmediziner.
Pro Woche werden in der Frankfurter Kinderschutzambulanz vier bis fünf Kinder untersucht. Oberarzt Baz Bartels erklärt, dass die Kinder meist über das Jugendamt, die Eltern oder das Familiengericht zu ihnen kommen. "Wir kriegen aber auch Kinder vorgestellt, die die Polizei irgendwo aufgefangen hat", sagt er.
In der Kinderschutzambulanz
In der Kinderschutzambulanz in Frankfurt werden jede Woche zwei bis drei Kinder untersucht. Immer mit der Frage: Sind sie misshandelt worden? Ein Besuch bei Rechtsmediziner Marcel Verhoff. [mehr]
Ende der weiteren InformationenAlle Untersuchungsschritte werden dokumentiert. Bestätigt sich, dass das angebliche Stolpern doch ein Schubsen war, veranlasst das Jugendamt weitere Maßnahmen. Manchmal müssen Kinder dann aus der Familie genommen werden. Denn die Meinung des Expertenteams stellt niemand infrage. Auch nicht die Eltern.
"Niedergelassene Kinderärzte haben es schwerer"
Niedergelassene Kinderärzte haben es da schwerer. Baz Bartels: "Da haben unsere niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen doch eine viel, viel schwerere Aufgabe, weil sie jeden Befund, den sie entweder selber sehen oder vermuten, auch selber vertreten müssen. Das brauchen wir hier als 'Einrichtung Kinderschutzambulanz' nicht."
„Wir brauchen mehr Geld für Behandlung, Forschung und Lehre.“Zitat Ende
Doch nur in ganz wenigen deutschen Kliniken gibt es eine Kinderschutzambulanz. Es fehlt die Kompetenz, sagt der Berliner Kinderchirurg Sylvester von Bismark: "Die Kinderkliniken in Berlin, die diese Kinderschutzambulanzen haben, haben alle eine entsprechende Vorerfahrung." Dieses Wissen sei maßgeblich, um eine Kinderschutzambulanz betreiben zu können. Man brauche "die Erfahrung mit multidisziplinärer Beurteilungen eines Kindes, einer kindlichen Verletzung, um dann von ganz vielen verschiedenen Blickrichtungen auf einen Fall draufgucken zu können und dann zu entscheiden, was ist es eigentlich gewesen."
Sylvester von Bismark leitet eine von fünf Kinderschutzambulanzen in Berlin. Dort werden jährlich bis zu 400 Verdachtsfälle untersucht. In 75 der Fälle gebe es Umstände, "die uns denken lassen, dass Verletzungen durchaus zugefügt sein können."
Bis vor kurzem keine Regelleistung der Krankenkassen
Finanziert werden die Berliner Kinderschutzambulanzen durch den Senat. Ein politisches Statement für den Kinderschutz, sagt der Kinderchirurg. Doch das sei in Deutschland leider noch die Ausnahme. Denn Kinderschutzambulanzen arbeiten in der Regel nicht kostendeckend.
Noch bis vor kurzem gehörte der Kinderschutz nicht zu den Regelleistungen der Krankenkassen. Das hat sich zwar geändert. Allerdings nur für Kinder, die in der Klinik bleiben, also stationär behandelt werden. Für Kinder, die untersucht werden und wieder gehen können, gilt dies nicht – auch wenn eine Misshandlung festgestellt wurde. Die Kliniken bleiben auf diesen Kosten sitzen. In Berlin und Baden Württemberg gibt es eine Finanzspritze durch die Politik.
In Frankfurt aber ist das Team der Kinderschutzambulanz auf Spenden angewiesen. Keine solide Basis, sagt Oberarzt Baz Bartels, und spricht aus, was Kindermediziner in ganz Deutschland denken: "Wir brauchen mehr Geld für Behandlung, Forschung und Lehre - auch in Hessen."
Sendung: hr-iNFO, 16.5.2018, 15:50 Uhr