Tausende Kinder werden in Deutschland jährlich misshandelt. Vor einem Jahr haben wir uns im Rechercheprojekt "Opfer ohne Stimme" damit beschäftigt, wie sich der Kinderschutz verbessern ließe. Was hat sich seitdem getan?

JUGENDÄMTER

Eine Studie der Hochschule Koblenz kam vor einem Jahr zu dem Schluss: Jugendämter können Kinder und Familien oft nicht so unterstützen, wie es notwendig wäre. Es gibt strukturelle Defizite, zu wenig Personal für viel zu viele Fälle. Hat sich die Situation seitdem verbessert? Petra Boberg und Dominik Nourney haben im Jugendamt in Gießen nachgefragt. 

Nein, nichts ist besser geworden, sagt Janina Zinke vom Jugendamt in Gießen, und schüttelt den Kopf. Alles wie immer, zu viele Fälle, zu wenig Zeit für die Familien.

Gerade hat eine Grundschule sich gemeldet: Ein Kind habe von Gewalt zu Hause berichtet. Die 30-jährige Sozialarbeiterin kennt die Familie, die sie nun besuchen wird. Sie packt die passende Akte in ihre Tasche und macht sich gemeinsam mit einer Kollegin auf den Weg. Im Jugendamt Gießen gilt das Vier-Augen Prinzip, zur Sicherheit und Kontrolle. 

Es gehe um eine Familie mit drei Kindern, "wo immer wieder die Rede davon ist, dass die Kinder geschlagen werden", sagt Zinke. Aber die Zusammenarbeit gestalte sich schwierig. "Wir versuchen heute nochmal, die Mutter zu erreichen."

30 Minuten für einen Hausbesuch

Seit fünf Jahren arbeitet Janika Zinke im Gießener Jugendamt. Fälle wie diese sind für sie Alltag. Ein Anruf kann den gesamten Tagesablauf verändern. So wie jetzt. Obwohl sich die Sozialpädagogin nicht sicher ist, ob sie die Mutter antreffen wird, will sie es versuchen. Erst neulich hatten Kollegen die drei Kindern von einem Rechtsmediziner untersuchen lassen. Verdächtige Verletzungen, die auf Schläge hinweisen, wurden dabei nicht gefunden.  

Und dennoch: "Die Kinder berichten immer wieder über Schläge", erzählt Zinke. "Jetzt geht es auch um Androhung von Schlägen auch mit Gegenständen. Man hat immer wieder Angebote gemacht. Es ist ganz schwierig, man kann nichts nachweisen, man hat nur die Aussagen der Kinder."

Die 30-Jährige mag ihren Job, will Familien helfen, obwohl das manchmal auch heißt: Eltern und Kinder müssen getrennt werden. Diese sogenannte Inobhutnahme ist aber der allerletzte Schritt.

Dass Kinder geschlagen oder gedemütigt werden, passiert oft, weil Eltern überfordert sind. So wie in diesem Fall. Jetzt hofft Janika Zinke, dass die Mutter einsichtig ist und Hilfsangebote annimmt. Die Mutter ist zu Hause, öffnet die Tür. Das ist nicht selbstverständlich. "Wir haben eine Gefährdungsmeldung bekommen, bezüglich ihrer Tochter", sagt Zinke zu ihr. "Ihre Tochter hat in der Schule gesagt, dass sie sie anschreien würden und auf die Finger hauen."

Aufmerksam suchen die beiden Sozialarbeiterinnen das Gespräch mit der Mutter. Sie erklären, fragen nach und informieren. Die Mutter wirkt überfordert, gibt zu, dass sie ihre Tochter schlägt und das auch sie geschlagen wird. Von ihrem Expartner. Hier müssen wir dran bleiben, sagt Zinke nach dem Besuch. 30 Minuten hat das Gespräch gedauert, mehr Zeit bleibt ihr nicht. Leider, sagt sie, doch der nächste Hausbesuch steht an.

"Man kann den Job nicht machen, wie man es gerne möchte"

Es sei schwierig, weil sie so viele Fälle haben. Man müsse ganz stark priorisieren, "da fallen Sachen, die wichtig, aber noch nicht akut sind, runter. Aufgrund der Masse ist es manchmal schwierig, da kann man den Job nicht machen, wie man es gerne möchte."

Um Kinder besser vor Gewalt zu schützen, brauchen Jugendämter mehr gut ausgebildetes Personal, sagt sie. Dann hätten sie weniger Fälle und mehr Zeit, sich um die Familien zu kümmern. Solche Familien würde sie gerne ein Mal in der Woche besuchen. Im Alltag schafft sie es nur alle zwei bis drei Monate. Und sie wünscht sich mehr Vertrauen in ihre Arbeit, vor allem bei den Familiengerichten: "Es ist frustrierend, man kämpft und was bewirken will, und dann werden Sachen anders eingeschätzt. Das führt oft zu einem anderen Ergebnis."

FAMILIENGERICHTE

Wenn Kinder misshandelt werden, entscheidet das Familiengericht, ob sie bei den Eltern bleiben - eine schwierige Aufgabe, die ohne entsprechende Aus- und Fortbildungen nicht zu bewältigen ist, sagen Experten. Doch genau daran mangelt es, wie unsere Recherche vor einem Jahr gezeigt hat. Was hat sich seitdem getan? Heike Borufka hat nachgefragt.

Ist ein Kind gefährdet? Wird es vernachlässigt? Vielleicht missbraucht? Hilft, was ihm angeboten wird? Wie befragt man überhaupt ein Kind? Wie muss sein Verhalten interpretiert werden? Das muss eine Familienrichterin, ein Familienrichter wissen. Aber wie?

Alle Entscheider sind Erwachsene und verstehen schon deshalb deren Sprache besser als die der Kinder. "Das Kind kann dabei verloren gehen. Und deswegen ist es immer wieder wichtig, zu sensibilisieren dafür, das Kind zu sehen", sagt die Frankfurter Juristin und Familienrechtlerin Carola Berneiser von der Frankfurt School of Applied Sciences.

Fortbildung für Richter im Koalitionsvertrag

Deshalb mahnt Familienrechtsprofessor Ludwig Salgo schon lange: "Ohne eine zusätzliche Aus- und Weiterbildung können Familienrichter diese Aufgabe nicht bewältigen." Doch langsam scheint der Weg genau dorthin zu führen.

Mittlerweile steht genau das im Koalitionsvertrag der Großen Koalition in Berlin: Fortbildung für Familienrichter. Es hat eine Anhörung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages dazu gegeben, auf der ebenfalls die verpflichtende Fortbildung für Familienrichter gefordert wurde. Und die Opposition aus FDP und Grünen im Bund haben entsprechende Papiere dazu verfasst. Außerdem fordert der Europarat in seiner Istanbul-Konvention ebenfalls mehr Fortbildung für Familienrichter.

Größter Widerspruch kommt von Bundesländern

"Der größte Widerstand kommt momentan von den Bundesländern", sagt Familienrechtler Salgo, "wobei die auch nicht einheitlich sind. Hamburg fordert inzwischen etwas, Baden-Württemberg wird was fordern - also es kommt in Bewegung." Nur das Land Hessen ziere sich noch, sagt Salgo.

Aber so einfach sei das nicht mehr. Denn Forschungen und Konventionen signalisierten klar: Es braucht mehr Fortbildung. "Von der universitären Ausbildung wird nichts mitgebracht", sagt Salgo. "Es ist nicht sichergestellt, dass jeder Familienrichter tatsächlich diese schwierigen Fragen beherrscht, dass sie zum selbstverständlichen Inventar seiner Tätigkeit als Richter gehören."

Heidi Fendler ist Familienrichterin in Frankfurt. Auch sie wünscht sich viel mehr Fortbildung zum Beispiel zum Thema Kindesanhörung: Es sei schwierig einzuschätzen, "wie bewerte ich das, was mir das Kind sagt?". Auch dürfe man das Kind nicht zusätzlich belasten und müsse ihm vermitteln: "Es ist wichtig, was Du mir sagst, ich nehme Dich ernst, aber Du bist nicht verantwortlich für das, was hier passiert."

"Können die Kinder weitgehend retten"

Der Druck steigt, glaubt Salgo, und fordert einen Rechtsanspruch für Richter auf Fortbildung. Denn in diesen Verfahren entscheiden Richter über das künftige Leben von Menschen: Kindern, ihren leiblichen Eltern, ihren möglichen Pflegeeltern.

Rein juristisch ausgebildete Richter könnten "im Grunde genommen nur dann die richtige Entscheidung treffen, wenn sie die unbestimmten Rechtsbegriffe, mit denen sie arbeiten im Recht, ausfüllen können", sagt die Frankfurter Juristin Berneiser. Dafür brauche es Kenntnisse anderer Disziplinen: "Sie müssen zum Beispiel wissen, was Bindung bedeutet, welche Entwicklungsstadien ein Kind durchläuft oder was eine medizinische Diagnose bedeutet."

Kyra Nehls ist Vormünderin, vertritt also Kinder in diesen Verfahren, trifft für sie Entscheidungen - und sagt: "Ich glaube, dass wir diese Kinder weitgehend retten können, wenn wir ein passgenaues Angebot schaffen. Und das ist manchmal eine Herausforderung" - die nur dann gelingen kann, wenn alle mitmachen und gut ausgebildet sind.