Kommentar: Selenskyj vor dem Bundestag Ein historischer Moment mit unwürdigem Ende

In einer Videoschalte hat sich der ukrainische Präsident an den Bundestag gewandt und um mehr Unterstützung für sein Land gebeten. Ein historischer Moment, meint unser Kommentator. Doch was danach folgte, sei bestürzend gewesen.
Im Deutschen Bundestag hat sich an diesem Donnerstag Historisches ereignet: Mitten aus einem Kriegsgebiet wurde ein ausländischer Regierungschef per Video ins Plenum geschaltet. Elf Minuten sprach Wolodymyr Selenskyi zu den deutschen Abgeordneten, während vermutlich gleichzeitig in der Ukraine Bomben auf seine Landsleute fielen. Noch nie war der Deutsche Bundestag einem Krieg - im übertragenen Sinne - so nah wie in diesem Moment. Das Entsetzen war vielen Abgeordneten deutlich anzusehen.
Völlige Fehleinschätzung
Umso bestürzender, wie es nach der Rede im Bundestag weiterging. Es folgte fast unmittelbar die Verlesung der Geburtstage unter den Abgeordneten. Dann wurde gestritten, ob es eine Aussprache zur Lage in der Ukraine geben sollte. Das forderte die Unionsfraktion. Die Ampelkoalition verhinderte dies mit ihrer Mehrheit. Auch mit der Begründung, manchmal müsse man das Wort einfach stehen lassen.
Mit dieser völligen Fehleinschätzung im Angesicht von Krieg und Verzweiflung hat die Ampel-Koalition in gewisser Weise bestätigt, was Selenskyi wenige Minuten vorher angemahnt hatte: Dass Deutschland sich wie hinter einer Mauer befinde und bestimmte Realitäten in der Ukraine nicht anerkennen wolle. Dabei wäre es ein Leichtes für SPD, FDP und Grüne gewesen, die für den Nachmittag geplante Aktuelle Stunde zur Lage der ukrainischen Flüchtlinge vorzuziehen oder in eine allgemeine Aussprache umzuwandeln.
Bitterer Nachgeschmack
So kam es, dass im Anschluss an Selenskyis außergewöhnliche Rede eine unangemessene Geschäftsdebatte im Bundestag ihren Lauf nahm. SPD, FDP und Grüne tragen mit ihrem Starrsinn daran eine Mitschuld, auch die Union muss sich jedoch vorwerfen lassen, in der offenen Flanke der Ampel mit Nachdruck gebohrt zu haben.
Der Nachgeschmack ist so oder so bitter: Ein historischer Moment im Bundestag bekam ein unwürdiges Ende.
Der Kommentar spiegelt die Meinung des Autors und nicht die der Redaktion wider.
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