Aschenputtel-Schuh

Schon seit Urzeiten erzählen sich Menschen Geschichten und Märchen. Und auch heute noch faszinieren uns Erzählungen von bösen Hexen und guten Prinzen, besonders in der Weihnachtszeit. Warum ist das so? Ein Gespräch mit dem Märchenkenner Mathias Jung.

hr-iNFO: Sie sind bekennender Märchenliebhaber. Was fasziniert Sie daran?

Jung: Ich liebe Märchen über alles, weil sie vieles von unserem Leben spiegeln. Märchen sind wie das Leben. Sie sind schön und grausam zugleich, genauso ist das Leben. Und die Märchen handeln von den Chancen und Krisen unseres Lebens, von den Niederlagen, von Siegen, von Einfallsreichtum, von List.

Mathias Jung

Sie zeigen, wie wir uns entwickeln können. Und sie spiegeln uns auch in unserem verwunschenen Selbst: dass eine Frau sagt - 'ich bin ein typisches Schneewittchen, ich lebe in einem Glassarg meiner Gefühllosigkeit und komme da nicht raus'. Dass ein Mann sagt - 'ja, ich bin Froschkönig, ich sitze da im Brunnen der Depression und komm nicht raus.' Oder eine andere Frau sagt - 'ich habe sexuellen Missbrauch erlebt und so bin ich wie das Dornröschen hinter einer riesigen Hecke und die schönen Ritter verbluten sich an mir.' Wir finden unerhörte, symbolträchtige Bilder für unsere Situation.

"Laboratorien des Unterbewussten"

hr-iNFO: Also die Märchen sind richtige Lebensgeschichten, kann man das so sagen?

Jung: Ja, sie sind Laboratorien des Unbewussten, weil sie uns sehr viel lehren von den Unterdrückungen, von Angst, Einsamkeit, von Neugier, von Aufbruch im Leben. Und Märchen haben immer eine zentrale Botschaft: Mach dich auf dem Weg, brich auf. Man könnte es auch drastisch sagen: Heb deinen Arsch hoch, bleib nicht im neurotischen Elend. Ich hatte viele Jahre über meinem Schreibtisch einen Satz aus einem Lehrbuch, der traf auf mich zu. Der lautete "Der Neurotiker zieht sein bekanntes Unglück dem unbekannten Glück vor". Er bleibt in diesem Elend hocken. 'Auf, geh auf den Weg, begegne deiner Angst, deiner Einsamkeit und wachse dabei!' - das ist die überragende Botschaft von Märchen. Am Ende steht in den meisten Fällen ein Happy End. Sie sind sozusagen, um mit dem Philosophen Ernst Bloch zu sprechen, das Prinzip Hoffnung.

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hr-iNFO "Himmel und Erde": Weihnachten, das Fest der Geschichten

Mehr zum Thema Märchen und Geschichten hören Sie in der Sendung "Himmel und Erde" am 24.12. um 6:05 Uhr und im Anschluss hier als Podcast.

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hr-iNFO: Viele Märchen sind ja auch Heldengeschichten. Warum mögen wir das so? Identifizieren wir uns mit diesen Heldinnen und Helden?

Jung: Unbedingt! Vor allem tun wir das als Kinder. Warum hören die Kinder so gern Märchen? Sie müssen in die Welt der Riesen, in die Welt der Erwachsenen eintreten, die alles wissen und ständig korrigieren. Und sie sind noch unerfahren, sie kennen ihre eigene Schwäche, sie wissen, was sie alles nicht können. Und jetzt stellen sie plötzlich fest: Ich bin ja das tapfere Schneiderlein, ich bin ja ein ganz kluger, wie ich da durch komme. Oder ich bin wie Rapunzel und da, wo ich verstoßen bin und durch den Wald irre, dann finde ich endlich wieder meinen Liebsten und da finde ich meine Lebensfreude, meine Energie wieder. Das ist ein ganz hoher Identifikationsgrad.

Das Märchen sagt sehr oft: 'Merkst du nicht, dass in dir die kleine Heldin steckt oder der kleine Held? Habe nur Mut und dann wirst du vom Schweinehirten zum König und vom Aschenputtel wirst du zu Königin. Du bist was Wunderbares, du bist was Einzigartiges!' Sie wenden sich direkt an das innere Kind in uns, und sie helfen uns, vom Schattenkind loszukommen zum Sonnenkind.

"In der Weihnachtszeit brauchen wir Seelenproviant"

hr-iNFO: Warum ist denn gerade Weihnachten so eine Zeit, wo so viele Märchen erzählt werden? Im Fernsehen laufen ja Märchenfilme gerade rauf und runter.

Jung: Die Weihnachtszeit ist, ob man gläubig ist oder ungläubig, eine heilige Zeit, eine Zeit der höchsten Sensitivität, der Besinnung. Da weht uns etwas Transzendentes an, worin das auch immer für den Einzelnen bestehen mag. Und es ist eine Zeit, wo wir Seelenstoff brauchen, Seelenproviant brauchen. Und die Märchen, die rühren in ihrer Symbolkraft, in ihren meisterlichen Bildern auch das Unbewusste in uns an und da können wir uns wiederum identifizieren.

Und es ist eine höhere Wahrheit in Märchen drin, das passt genau in diese Zeit. Wie entschleunigen da auch, wir haben sehr viel Ruhe, wir machen vielleicht auch mal ein Mittagsschläfchen, die Kinder spielen, das ist die Zeit der erhöhten Aufmerksamkeit. Da entsteht ein neuer, ungewöhnlicher, geradezu heiliger Resonanzraum.

hr-iNFO: Was ist denn Ihr Lieblingsmärchen?

Jung: Hänsel und Gretel. Und ich kann aus einem einfachen Grund sagen warum: Meine Schwester und ich, wir haben unabhängig voneinander entdeckt, was unser Lieblingsmärchen ist, nämlich Hänsel und Gretel. Warum? Weil unsere Eltern sich kurz nach dem Krieg geschieden haben und die älteren Brüder wurden ins Internat im Ausland deponiert, ich sollte später folgen. Und meine Schwester und ich, wir blieben übrig. Unsere Mutter war eine sehr tüchtige Ärztin, aber innerlich war sie in einer depressiven Phase. Und da haben meine Schwester und ich wie Pech und Schwefel zusammenehalten, und diese Liebe hat ein ganzes Leben lang gehalten. Wir haben uns in unserer Einsamkeit unterstützt. Also das war unsere innere Wahrheit in diesem Märchen.

Zitat
„Sie sind wirklich persönlichkeitsbildend, diese Märchen.“ Mathias Jung Mathias Jung
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Das ist übrigens eine ganz spannende Frage nach dem Lieblingsmärchen. Ich empfehle immer in den Therapien: 'Schau mal, was dein Lieblingsmärchen ist. Du wirst entdecken, dass da sehr viel von dir drinsteckt. Und dann überleg dir noch ein zweites: wie würdest du dein Leben in der verfremdeten Form eines Märchens schildern? Es war einmal ein kleines Mädchen, es war einmal ein kleiner Junge, und du wirst sehn, dass da auch schlimme Dinge auftauchen, Drachen und böse Feen sozusagen, aber eines wirst du auch erleben: Das Ganze endet positiv. Aus diesem Kind ist nicht zuletzt durch das Leid eine erwachsene Frau, ein erwachsener Mann geworden.' Sie sind wirklich persönlichkeitsbildend, diese Märchen.

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Das Interview führte Petra Diebold.

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