Weisheit

"Der russische Bösewicht“ oder „die exotische Schönheit ": So manches Sprachbild bestärkt Vorurteile und wirkt diskriminierend. Dagegen wendet sich das Sensitivity Reading, sensibles Lesen, das die Autorinnen und Autoren darauf aufmerksam macht und korrigiert. Immer mehr Verlage engagieren die "empfindsamen Lektoren". Aber braucht es was wirklich?  

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Pro: Sinnvolles Update

Von Davide Di Dio

Ich kann nicht alles wissen. Deswegen frage ich meine Kolleg:innen um Hilfe. Zum Beispiel bei einer Recherche oder bei einem neuen Programm. Das ist ganz normal. Wieso sollten wir also bei so etwas essenziellem wie unserer Sprache das alles anders machen? Weiß ich wirklich, wie ich mit meiner Sprache oder mit meinen Geschichten bei meinen Zuhörer:innen ankomme? Natürlich habe ich als Journalist eine gewisse Vorstellung davon. Aber ich kann eben nicht alles wissen, auch wenn ich das Gefühl habe, dass sich auf solche Themen achte. Es sollte doch also auch normal sein, sich genau dafür Hilfe zu holen.

Beispiel: Wie soll ich eine Geschichte über Rassismus erzählen, wenn ich davon selber nicht betroffen bin? Oder wie kann ich als Hörender wissen, wie sich meine gehörlose Romanfigur wirklich fühlt? Im schlimmsten Fall könnte meine Geschichte also Stereotype festigen oder rassistisch sein - vielleicht sogar, obwohl ich das nicht wollte. Und das ist nur ein Nutzen von Sensitivity Reading - der, in dem es darum geht, mit Sprache nicht zu verletzen. Man möchte jetzt vielleicht meinen: ‚Gut, dann darf ich ja gar nichts mehr frei schreiben, ohne dass vorher jemand drüber schaut.‘ Doch, das geht. Geschichten lassen sich auch ohne Sensitivity Reding erzählen. Im Zweifel sind sie dann halt falsch und unauthentisch erzählt und möglicherweise auch noch beleidigend. Und das schöne an Sprache und Geschichten ist doch, dass sie uns als Menschen eigentlich verbinden sollten. Warum sollte das kein Update vertragen dürfen?

Contra: Das Ende von Kunst und Kultur

Von Dagmar Fulle

Texte sollen mit Sensitivity gelesen werden, was angeblich nur bestimmte Fachleute können. Das ist das Ende von Kunst und Kultur, wie ich sie verstehe. Ein Mann, der eine Frau auf der Bühne verkörpert oder umgekehrt: ein Buch lesen, das eine andere Lebenswelt und Sichtweise für mich erlebbar macht - das wäre ja dann in der Konsequenz auch nicht mehr möglich. Damit verbietet man mir, Neues zu entdecken und mich auch mal richtig aufzuregen, mich auseinanderzusetzen. Woran sollen und wollen wir uns abarbeiten, wenn die Produkte der geistigen und künstlerischen Auseinandersetzung nur noch glattgezogen und rundherum politisch korrekt sind?

Bereits jetzt stehen in US-amerikanischen Universitätsbibliotheken reihenweise literarische Klassiker im Giftschrank: von Homer bis Shakespeare, von Goethe, Kleist und Kant über F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ bis zu Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“, weil diese Werke als patriarchalisch, sexistisch, menschenverachtend oder gewaltverherrlichend gelten - oder alles auf einmal. Ein Buch ist für mich ein Spiegel, der mich mit allem konfrontiert, was menschlich ist, zuweilen auch mit dem, was ich vielleicht lieber nicht sehen möchte - Sexisten, Rassisten vielleicht. Darüber können wir uns empören. Darüber können wir diskutieren, aber alles von vornherein ausmerzen, zensieren? Dann haben wir irgendwann nur noch entweder verbotene Bücher oder solche, an denen sich wirklich niemand mehr reiben kann. Für mich wäre das ein kultureller Albtraum.

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1 Kommentar

  • Wer es möchte, soll es tun. Ich persönlich bin da aber bei Frau Fulle. Ein Text lebt doch (auch) von den Wahrnehmungen, dem Denken und dem Empfinden des Autors. Wenn ein anderer drüber liest und es "glattbügelt", ist es für mich nicht mehr echt und authentisch.