Veronika Egger

Veronika Egger ist ein Kind, das es nach den Gesetzen der Kirche gar nicht geben dürfte: Sie ist die Tochter eines katholischen Priesters. Im Interview spricht sie über eine Kindheit voller Lügen, Schuldgefühle und darüber, wie dann doch noch Vieles gut wurde.

Veronika Egger ist sieben Jahre alt, als sich alles für sie ändert. Sie lebt zu dieser Zeit zusammen mit ihrer Mutter in einem kleinen bayerischen Dorf, sie geht zur Schule, sie trifft sich regelmäßig mit ihrem Vater. Die Menschen im Dorf kennen sie und ihre Geschichte, sie wissen, wer ihr Vater ist. "Bis zum Tag X war alles ganz normal", sagt Veronika Egger, "und plötzlich ändert sich alles." An diesem Tag wird ihre Mutter zum Direktor ihrer Grundschule gerufen: Die Veronika solle aufhören, über ihren Vater zu reden, sagt er. Das kleine Mädchen solle schweigen oder lügen, wenn es um ihren Vater gehe. Denn ihr Vater ist ein katholischer Priester.

Eine klare Botschaft

Er lernte Veronikas Mutter kennen, als er in ihrer Gemeinde tätig war. Er verliebte sich in die junge Frau und sie sich in ihn, sie wurde schwanger, Veronika kam zur Welt. Nach der Geburt des Mädchens versetzte die Kirche ihn zunächst nach Garmisch-Partenkirchen, was einige Fahrstunden entfernt liegt, später, als Veronika drei ist, als Klinikseelsorger ins näher gelegene Ebersberg. Ein klarer beruflicher Abstieg, verbunden mit der Botschaft: Eine Familie, das darf nicht sein. Gleichzeitig sei Ebersberg aber auch "ein kleiner Kompromissvorschlag seitens der Kirchenoberen" gewesen, meint Veronika - so sei er nah genug bei der Familie gewesen, um Kontakt zu halten, aber zu weit, um es zu einem richtigen Familienleben kommen zu lassen.

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"Das Interview" mit Veronika Egger als Podcast

Veronika Egger
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Dass ihr Vater ein Priester war, das sei schon was Besonderes gewesen, sagt Veronika Egger, das habe es bei den anderen Kindern im Kindergarten oder später in der Schule nicht gegeben. Dennoch sei es nie ein großes Thema für sie gewesen: "Dass das etwas war, worüber man nicht sprechen darf im Dorf, das war mir nicht bewusst." An dem Tag, an dem der Schulleiter schließlich mit ihrer Mutter sprach, habe sie ihre Unbeschwertheit verloren, sagt sie heute. Es war der Tag, an dem sie realisierte: "Mich darf es nicht geben. Und vor allem darf ich nicht mehr darüber erzählen, was der Papa so macht. Am besten darf ich mich mit ihm gar nicht mehr zusammen sehen lassen." Sie lebt fortan mit dem Gefühl, dass es allen besser ginge, wenn es sie nicht gäbe.

Leben als Außenseiterin

In den folgenden Jahren wurde Veronika Egger zur Außenseiterin. Ihre Mutter galt im Dorf als "Priesterhure", sie selbst als "Bankert", ein böses Wort für das, was sie war: ein uneheliches Kind. Sie wurde von Vereinen ausgeschlossen und von ihren Mitschülern gemobbt.

Ihren Vater hat sie immer noch getroffen. "Aber immer, wenn wir draußen unterwegs waren, Einkaufen oder Wandern zum Beispiel, waren wir in Habachtstellung." Wenn sie jemandem begegnet seien, bei dem der Vater Probleme gewittert habe, sei es öfter passiert, dass er ihre Hand losgelassen habe und plötzlich verschwunden sei, erzählt Veronika Egger. Dann habe er abgewartet, bis die Luft wieder rein gewesen sei und sei plötzlich wieder aufgetaucht. "Umso älter man wird, umso mehr sieht man vielleicht eine gewisse Komik in solchen Situationen. Aber als kleines Kind ist es völlig unverständlich und verängstigt einen, wenn man kein Vertrauen haben kann in die Hand, die einen führt."

Irgendwann in dieser Zeit hatte Veronikas Mutter ein Gespräch mit einem Kirchenoberen. Der Bischof, der für ihre Diözese zuständig war, kannte ihre Geschichte, er wusste von der Tochter des Priesters. Sein Name war Joseph Alois Ratzinger, später bekannt als Papst Benedikt XVI. Ein Mitarbeiter seines Ordinariats sei zu ihrer Mutter gekommen, erzählt Veronika Egger, und der Tenor des Gesprächs sei klar gewesen: Ihre Mutter sei an allem schuld – daran, dass man den Vater habe versetzen müssen, dass er Ärger in seinen Gemeinden bekommen habe, dass er keine Karriere mehr machen könne.  

Kirche schob Schuld auf die Mutter

Das habe sie mit Wut erfüllt, sagt Veronika: "Diese Ungerechtigkeit gegenüber einer Frau, die ohnehin geschlagen ist, die mit allem allein klarkommen muss – dieser Frau dann auch noch sämtliche Schuld zuzuschieben. Wo man sich fragen muss: Wo ist denn da überhaupt die Schuld? Wenn zwei Menschen sich lieben und wenn da ein Kind entsteht, was ist da so schrecklich dran?".

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„Wo ist denn da überhaupt die Schuld? Wenn zwei Menschen sich lieben und wenn da ein Kind entsteht, was ist da so schrecklich dran?“ Veronika Egger Veronika Egger
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Mit 13 bekam Veronika Egger kreisrunden Haarausfall, bis auf ein paar Strähnen am Pony war ihr Kopf innerhalb von wenigen Wochen kahl. Die Erklärung ist für sie heute klar: "Das war ein Signal des Körpers – es geht einfach nicht mehr. Du hast so viel in Dich reingefressen und schweigen und lügen müssen." Sie entschied sich, das Schweigen zu brechen: Sie wechselte die Schule und log nicht mehr darüber, wer ihr Vater war und was er tat. Sie habe der Direktorin gleich gesagt, dass sie die Tochter eines Priesters sei. "Wenn das für Sie ein Problem ist, bin ich hier an der falschen Schule", habe sie ihr gesagt. Ihre Reaktion sei toll gewesen: "Das ist für mich überhaupt kein Problem, warum denn auch?"

Es war ein Neustart, ein "Befreiungsschlag". Dass sie über ihre Geschichte reden konnte und nichts passierte, habe ihr so viel Auftrieb gegeben, dass sie mit Anfang 20 einen missionarischen Eifer entwickelt habe: "Wenn ich über meine Geschichte reden kann, dann müssen es andere doch auch können. Das muss doch für sie die Initialzündung sein, auch aufzustehen und über ihre Geschichte zu reden. Und dann sind wir irgendwann ganz viele, und dann können wir vielleicht was erreichen. Fernziel: Zölibat kippen."

Doch es kam anders. Die meisten Priesterkinder, zu denen sie Kontakt hatte, haben abgewunken, als es um das Thema Öffentlichkeit ging. Obwohl sie inzwischen erwachsen sind, würden sie noch immer furchtbar mit ihren Geschichten hadern, sagt sie.

Nicht mehr am Rand, sondern mittendrin

Veronika Egger kann damit leben. Sie hat andere Prioritäten gefunden. Heute, mit Mitte 40, stehe sie nicht mehr nur am Rand, sondern mittendrin. "Ich bin angekommen in der Gesellschaft", sagt sie. Sie wohnt inzwischen im Bayerischen Wald, sie ist Waldführerin im Nationalpark und Gemeinderätin. "Dass ich auf einmal wirklich Teil der Gesellschaft bin und nicht nur das Priesterkind, dass ich Verständnis bekomme statt Ablehnung, dass ich Mitglied in Vereinen werden darf, das war schon ungewohnt." Aber eben vor allem: schön.

Für die Priesterkinder wünscht sie sich immer noch, dass sie Gehör finden. Bislang fehle ihre Stimme in der Diskussion über die Missstände in der Kirche. "Es wäre mir schon ein Anliegen, dass man darüber spricht", sagt sie. Dass man frage, wo ihre Schwierigkeiten lägen und wie man sie vielleicht unterstützen könne.

Und ihr Vater? Sie habe die Wut inzwischen abgelegt, sagt Veronika Egger. "Er hatte sich damals ja vermeintlich die schönsten Dinge herausgepickt, er hat sich das Beste von beidem gesucht. Aber eigentlich hat er mir in seinen letzten Jahren oft leidgetan. Dieses ganze Umfeld, das er so genossen hat als Priester, das war dann im Alter nicht mehr da. Und dann war er doch sehr, sehr einsam."

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Das Interview führte Selina Rust.

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