Diskriminierung in der Literatur Wie umgehen mit Rassismus in Kinderbüchern?

In einigen Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur finden sich Formulierungen, die wir heute nicht mehr verwenden würden - weil sie etwa rassistisch oder sexistisch sind. Aber wie sollte man mit diesen Werken umgehen? Dazu gehen die Meinungen auseinander. Sandra Winzer gibt einen Einblick in die Debatte.

Cover verschiedener Kinderbücher (Pippi Langstrumpf, Struwwelpeter)
Bild © Imago Images
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Sie läuft durch dichtes Grün, zwischen hohen Palmen hindurch: Pippi Langstrumpf in der Folge "Pippi in Taka Tuka Land". Eine Geschichte, in der vom "Negerkönig" gesprochen wird – ein rassistischer Begriff aus den 40er Jahren. Der Begriff wurde geändert: in Südseekönig.

Es sind Fragen, die sich gerade bei Kinderliteratur immer wieder stellen: Streicht man Formulierungen oder nimmt Bücher aus dem Repertoire? Oder darf der Klassiker so stehen bleiben, als Zeuge der damaligen Zeit?

"Texte dürfen nicht verändert werden"

In Kriftel diskutieren Mitarbeiterinnen der Gemeindebücherei im Alter zwischen 60 und 82 Jahren das Thema. Zwei von ihnen sind zuständig für die Aufnahme von Kinder- und Jugendbüchern im Bücherei-Repertoire. In einer E-Mail an den hr schreiben sie: "Wir sind einstimmig der Meinung, dass Texte nicht verändert werden dürfen - auch nicht, um rassistische Stellen (im heutigen Verständnis) herauszudestillieren oder zu "übersetzen" in eine "unverfängliche" Sprache. Jeder Titel ist Ausdruck seiner Zeit und würde mit Veränderungen oder Entschärfungen an Authenzität und Glaubwürdigkeit verlieren. Wir denken dabei an klassische Kinderbuchautoren z. B. Twain, Defoe, Lindgren, Ende u.a."

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Wenn ich als schwarzes Kind immer nur Bücher lese, in denen ich mich als die unterlegene Person finde, was bekomme ich da für ein Selbstbild? Zitat von Constanze von Kitzing, Kinderbuchautorin und Illustratorin
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Schwierig, sagt die Kinderbuchautorin und Illustratorin Constanze von Kitzing. Sie hat sich auf diskriminierungssensible Kinderbücher spezialisiert. Auch Bücher als Zeugen der Zeit prägen, sagt sie. Man müsse darauf schauen, was im Kinderzimmer selbst passiert. "Wenn ich als schwarzes Kind immer nur Bücher lese, in denen ich mich als die unterlegene Person finde, was bekomme ich da für ein Selbstbild? Und bei Pippi Langstrumpf ist ja nicht nur das N-Wort ein Problem, das in Südseekönig geändert wurde, sondern dass einfach eine Person, die weiß ist, auf eine Insel geht und nur wegen der Hautfarbe als König gefeiert wird. Wenn man das nicht ein bisschen kritisch analysiert, wiederholt man nur diese 100 Jahre alten Rassismen."

"Kinder können das einordnen"

Eine permanente Einordnung der Inhalte könnten Mütter und Kinder nicht automatisch leisten. Deswegen sei es wichtig, das Richtige zu lesen. Mehrere vom hr befragte Kinderbuchautorinnen sind sich einig: diverse Kinderbücher müssen publiziert werden. Kinder brauchen Bücher, in denen sie sich repräsentiert fühlen. "Wenn ich als Autorin schreiben würde, wie meine Kindheit war, wäre das ein weißes Klassenzimmer", sagt Constanze von Kitzing. "Wenn ich aber in die Klasse meiner Kinder gehe, die sind so divers, so multireligiös, multikulturell, mit unterschiedlichen Familienkonstellationen. Da würde ich, wenn ich weiterhin das blonde Kind im Reihenhaus zeige mit der heteronormativen Familie, nur einen ganz kleinen Teil der Kinder, die in dieser Klasse sitzen, abdecken."  

Susanne Schröter, Ethnologin an der Frankfurter Goethe-Universität, sieht das gelassener. Über Pippi Langstrumpf und Winnetou-Bücher sagt sie: "Das würde man heute in der Weise natürlich nicht mehr so schreiben, aber Kinder können durchaus auch einordnen, dass das heute nicht mehr real ist. Ich glaube, man kann auch Jugendlichen und Kindern zumuten, dass sie sich damit auseinandersetzen, was wirklich ist. Ich habe selber fiktionale Romane gelesen und schlussendlich habe ich Ethnologie studiert. Also ich rate ein bisschen zur Entspannung."

Angriff auf die Idee der Kultur überhaupt?

Doch ist Winnetou Fiktion oder rassistische Realität? Philosoph Konrad Paul Lissmann rät beim Thema Cancel Culture zur Vorsicht. Er sieht darin einen Angriff auf die Idee der Kultur überhaupt. Ja, man solle gegenüber kulturellen Werken, auch gegenüber Kinderbüchern, eine kritische Haltung wahren. Aber: "Es geht darum, dass wir den Trend beobachten, dass man sich gerade nicht mehr mit diesen inkriminierten Werken auseinandersetzen möchte, sondern sie entweder umschreiben oder canceln möchte. Die Kriterien dafür sind die Kriterien unserer aktuellen, momentan existierenden Moral, alle anderen Werke sowohl andernorts als auch aus anderen Zeiten, dieser Moral zu unterwerfen." Kultur, sagt Lissmann, exerziere das Spannungsfeld von Ästhetik und Moral stets durch. Das dürfe man nicht verlieren.

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Wir beobachten den Trend, dass man sich gerade nicht mehr mit diesen inkriminierten Werken auseinandersetzen möchte, sondern sie entweder umschreiben oder canceln möchte. Die Kriterien dafür sind die Kriterien unserer aktuellen, momentan existierenden Moral. Zitat von Konrad Paul Lissmann, Philosoph
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Die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal wurde stark durch die Bücher Enid Blytons geprägt. Rückblickend sagt sie: Literatur lesen und kritische Inhalte bemerken – beides geht zusammen. Zu Enid Blyton sagt sie: "Wahrscheinlich seit sie angefangen hat zu schreiben, haben sich Menschen darüber gestritten, dass sie rassistisch, sexistisch, klassistisch ist und noch viel mehr. Dieser krude Rassismus damals ist mir natürlich aufgefallen. Ich finde, beides geht nebeneinander. Man kann Texte kritisieren und kann trotzdem sagen: Sie haben trotzdem Bestand." Alternativen habe es in ihrer Kindheit sowieso keine gegeben: "Es war ja eben nicht so, dass der Rest der Kinderliteratur total toll und divers und anders gewesen wäre. So war die Welt. Ich habe mich darüber geärgert, ich fand es schmerzhaft, aber es gab ja sowieso keine Alternative. Ich hab sehr früh gelernt:  So ist es und man muss es wahrnehmen und trotzdem weiter lesen." Das muss heute nicht mehr so sein, sagen vor allem Kinderbuchautorinnen. Der Fokus könne neu gelegt werden: auf diverse Kinderliteratur mit einer eigenen Stimme.

Neue Bücher - gegen Rassismus, für Diversität

Klassiker akzeptieren als Repräsentanten ihrer Zeit? Oder neue Bücher publizieren – gegen Rassismus, für Diversität? Fragen, um die die Rassismus-Frage in Kinderliteratur kreist. Eines ist klar: Die Sensibilität für rassistische Formulierungen wächst weiter. In einem Punkt sind sich die unterschiedlichen Positionen jedoch einig: Rassistische Inhalte müssen kenntlich gemacht sein. "Um auf heute unangemessene und als rassistisch geltende Wörter in diesen geradezu klassischen Büchern hinzuweisen, fänden wir es angemessen, im Vorwort oder Klappentext deutliche Hinweise zu geben über die geschichtliche Entwicklung und das Verständnis der Sprache  und ihre unterschiedliche Bedeutung/Interpretation von Wörtern im Vergleich zu heute", sagt Ursel Renate Hadiprono von der Gemeindebücherei in Kriftel.

Trotzdem: Auch alte Rassismen prägen, sagt Autorin Constanze von Kitzig.  Im Kopf rausfiltern könne man im Kinderzimmer kaum. Diskriminierende Begriffe haben heute keinen Platz mehr. Deswegen ihr Aufruf: "Ich finde, das ist legitim. Ich muss mir nur bewusst sein, dass es trotzdem, auch wenn es die Haltung von vor 100 Jahren ist, etwas mit mir macht. Und wenn ich diese Bücher immer wieder konsumiere, wird es auch weiter etwas mit mir machen und mich prägen." Ihr Fokus liegt deswegen auf neuen Kinderbüchern - die diverse Gesellschaften zeigen, in multikulturellen Klassenzimmern mit unterschiedlichen Familienmodellen. Viele Kinderbuchautorinnen und -autoren tun es ihr gleich – um nach der Verbotsdebatte zu schauen: Was kommt jetzt?

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Sendung: hr-iNFO "Aktuell", 13.4.2023, 6 bis 9 Uhr

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Quelle: hr-iNFO