Koch Sandro bereitet die Vorspeise vor

Genuss für alle – das ist das Konzept des Genfer Restaurants "Refettorio". Spitzenkoch Walter El Nagar kocht hier mittags für zahlende Gäste und serviert die gleichen, erstklassigen Menüs abends kostenlos für Bedürftige. Und das jeden Tag, nicht nur an Weihnachten.

Wie in den meisten exzellenten Restaurants kommt im "Refettorio" gleich nach der freundlichen Begrüßung die Frage nach der Reservierung. Die Heilsarmee habe für ihn reserviert, sagt leise ein älterer Mann. Und nimmt Platz an einem der zwölf großen ovalen Tische, die der Künstler Michelangelo Pistoletto für das Genfer Gourmetrestaurant entworfen hat. Auch an den Wänden hängt Kunst.

Hilfsorganisationen reservieren Tische für Bedürftige

Wer im Refettorio isst, genießt nicht nur hervorragendes Essen, sondern auch das passende Ambiente. Und dafür soll niemand Schlange stehen müssen wie bei Suppenküchen oder anderen Essensausgaben für Bedürftige, sagt Walter El Nagar, Refettorio-Gründer und Küchenchef: "Bei uns geht es um soziale Inklusion, Würde, Ernährung, Menschenrechte. Schlangestehen gehört da nicht dazu. Deshalb arbeiten wir mit Hilfsorganisationen zusammen, die für Bedürftige Tische reservieren." Es gebe aber immer auch noch ein paar Plätz für Leute, die einfach so kommen. "Wir wären ja dumm, wenn wir Menschen ohne Ticket zurückweisen würden. Besonders wenn die Person offensichtlich obdachlos ist. Unsere Tür ist immer offen."

Wer im Refettorio zu Mittag isst, zahlt fürs Menü 36 Schweizer Franken – die Abendgäste zahlen für dasselbe Essen nichts. Könnten sie auch gar nicht. Genf gilt zwar als eine reiche Stadt - weltweit hat nur Monaco eine höhere Millionärsdichte - , aber jede fünfte Person im Kanton Genf, so die offizielle Statistik, ist von Armut bedroht.    

Hauchdünnes Kalbsfleisch mit Pilzen

Viele junge Leute, Studierende, sind heute unter den rund 50 Gästen, die zum Gratis-Dinner ins Refettorio gekommen sind. Josef ist Kunststudent. Das Leben in Genf sei sehr teuer, sagt er, Restaurantbesuche könnten sie sich nicht leisten. "Es ist cool, hier eingeladen zu sein." Am Nachbartisch sitzt der stille Mann, den die Heilsarmee geschickt hat, daneben Sarah, eine Frau mit peruanischen Wurzeln, die von Adage unterstützt wird, einer Genfer Hilfsorganisation speziell für notleidende alte Menschen. "Dieses Restaurant ist wunderbar", sagt sie. "Das Essen ist fantastisch, ich habe schon nach ihrem einzigartigen Salatsoßenrezept gefragt. Und die Atmosphäre hier ist sehr herzlich."

Ein offener, für alle einsehbarer Raum ist auch die Küche in der Mitte des Restaurants. Zwei Menüs werden hier jeden Abend zubereitet, ein vegetarisches und eins mit Fleisch – genauso wie für die zahlenden Gäste am Mittag. Und mit der gleichen Sorgfalt: Auf großen weißen Tellern garniert Koch Sandro Mitri gerade hauchdünn geschnittenes Kalbsfleisch mit verschiedenen Sößchen. Eine "Forchetta de veau", erklärt Sandro – dazu gibt es eine Soße vom eigenen Saft, außerdem Meerrettich, etwas Petersilienöl, eingelegte Senfsamen und eine Soße aus fermentierten Pilzen.

"Ernährung ist politisch"

Das Fermentieren ist Dreh- und Angelpunkt der innovativen Kochkunst im Refettorio. Wie in einem Labor lagern in deckenhohen Regalen Dutzende, wenn nicht Hunderte Einmachgläser und Plastikbehälter - mit unter anderem, so ist auf den Etiketten zu lesen, Fischhäuten, Kürbisamen, Bananen, Senfkörnern ... "Wir nutzen Fermentation, um Lebensmittelabfälle zu retten", sagt Küchenchef Walter El Nagar. "Blätter oder Wurzeln von Gemüse zum Beispiel - alles, was sonst im Müll landet, verwandeln wir durch Fermentation in unsere eigenen Zutaten. Das ist nachhaltig und gastronomisch fantastisch."

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„Alles, was sonst im Müll landet, verwandeln wir durch Fermentation in unsere eigenen Zutaten. Das ist nachhaltig und gastronomisch fantastisch.“ Sandro Mitri, Koch im Refettorio Sandro Mitri, Koch im Refettorio
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Vorbild und Inspiration für Walter El Nagars experimentelle Kochkunst ist unter anderem der französische Physikochemiker und Erfinder der Molekulargastronomie Hervé This. Sein Porträt thront in der Restaurantküche neben einem großen, grünen Plakat mit der Aufschrift: "L’alimentation est politique" – Ernährung ist politisch!  

Gleicher Lohn für Chef und Angestellte

Sein Genfer Avantgarde-Lokal beschreibt Walter El Nagar als "solidarisches und soziales Restaurant". Alle zwölf Angestellten bekommen den gleichen Lohn wie er selbst. Das ganze Projekt wird getragen von einer gemeinnützigen Stiftung – der "Mater Fondazione", die von zahlreichen Partnern und Sponsoren unterstützt wird.

Und dann sind da noch viele freiwillige Helferinnen und Helfer wie Jane, die an mehreren Abenden das Refettorio-Team verstärkt – Servietten faltet, Salat putzt oder Rote Bete schält. "Ich mag es, dass die zahlenden Gäste am Mittag und die nicht-zahlenden am Abend hier absolut gleich behandelt werden", sagt sie. "Alle bekommen die gleiche Aufmerksamkeit, das gleiche Essen." Und das, sagt der Student Josef, schmeckt einfach umwerfend gut: "absolutely delicious." 

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