Mann in Wanderausrüstung steht auf einem Berg

Der Frühling ist eingekehrt und wir ziehen aus: ins Grüne, zum Wandern. Nicht mehr nur Alte, auch Junge zieht es vermehrt in Wald und Flur, um abzuschalten und runterzukommen. Aber was bringt uns das Wandern wirklich - mental und körperlich? Ein Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Stefan Schneider.

Stefan Schneider ist Professor am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft an der Sporthochschule Köln.

hr-iNFO: Was trainieren wir, wenn wir wandern? Oder: Wie intensiv muss man wandern, um überhaupt etwas zu trainieren?

Schneider: Ich glaube, wir müssen sehr deutlich unterscheiden zwischen dem kurzen Gang zur mittäglichen Besinnung, vielleicht als aktive Mittagspause, oder tatsächlich dem mehrstündigen oder sogar mehrtägigen Wandern. Zweiteres ist sicherlich körperlich sehr fordernd für unser Herz-Kreislaufsystem, auch für unser muskulär-skeletales System.

Beim Ersteren wäre ich da sehr vorsichtig und würde sagen, das hat eher einen mentalen Effekt, eine Defokussierung, mal rauskommen aus dem Stress-Alltag, den Kopf freibekommen. Im Sinne der Stressbewältigung oder der Psychohygiene sicherlich sehr, sehr sinnvoll, mal 30, 40, 50 Minuten in der Mittagspause sich aktiv zu betätigen. Damit es zu einer Trainingsanpassung kommt, ist aber ein überschwelliger Reiz nötig. Natürlich kann auch ein kürzeres Wandern dazu führen, dass wir unseren Trainingszustand halten. Ob der dann, wenn wir ins Alter hineingehen, aber genug ist, ist eine andere Frage.

hr-iNFO: Was passiert bei dieser Defokussierung, die Sie angesprochen haben, konkret im Kopf?

Schneider: Unser Alltag ist ja sehr stark von Stress geprägt. Stress für uns meint, dass wir eigentlich nur zu viele Termine, zu viel zu tun haben und dabei gleichzeitig zu wenig Zeit und zu wenig Ressourcen, um all das zu erledigen. Stress ist ja kein letaler Stress mehr. Wenn wir in die Erdbebengebiete in der Türkei und in Syrien schauen oder in die Ukraine, dann sehen wir, dass diese Menschen tatsächlich Stress haben, der an die Lebenssubstanz dran geht - also Krieg, Hunger. Den Stress, den wir hingegen haben, den bezeichne ich immer gern so ein bisschen als Kindergartenstress.

Aber die rudimentäre Antwort des Menschen auf Stress ist eigentlich immer dieselbe: Es kommt zu einer Ausschüttung von Stresshormonen, Adrenalin, Noradrenalin, und wir wollen uns bewegen. Wir wollen kämpfen oder fliehen. Und der Stress an sich ist nicht das Problem, aber eben der Mangel an Kompensation durch Bewegung. Und das zieht sich dann bis in unser Gehirn hinauf, dass wir einfach ganz klar sehen: Die Areale im Gehirn, insbesondere der Frontalkortex, der eine erhöhte Aktivität unter Stress zeigt, wo dann einfach nicht mehr genügend Rechenkapazität da ist, der wird durch Bewegung, durch diese Defokussierung heruntergefahren, es werden Ressourcen freigesetzt. Und so können wir dann auch wieder kreativ werden.

hr-iNFO: Also der Stress, den wir empfinden, wird gestoppt durch Bewegung?

Schneider: Ja, Bewegung ist eine Möglichkeit. Man kann auch meditieren, beten, auch mal sinnlos eine Netflix-Serie schauen, das ist wahrscheinlich auch ganz gut, um sich mal zu defokussieren. Letzten Endes muss da jeder und jede für sich was finden, was ihn oder sie ein bisschen runterbringt - dieses den Kopf frei bekommen, die Seele baumeln lassen, einfach mal nicht mit den Problemen des Alltags beschäftigen.

hr-iNFO: Was ist denn für uns tatsächlich besser: Stress plus Stressabbau oder komplette Stressvermeidung?

Schneider: Ich glaube, das ist sehr individuell. Es gibt Menschen, die performen einfach extrem gut unter Stress, und es gibt Menschen, die performen extrem gut, wenn sie keinen Stress haben. Manche suchen auch das Risiko, andere sind da eher in sich gekehrt und ruhig. Da muss man für sich selber herausfinden: Was tut mir denn als Mensch gut?

hr-iNFO: Ist denn Bewegung auch hilfreich für die Durchblutung des Gehirns? Ich habe immer gedacht, Sauerstoff und frisches Blut im Gehirn sorgen auch für frische Gedanken.

Schneider: Das ist so eine moderne Mythe, die sich ergeben hat. Aber ich sage mal ganz böse: Wenn Sie ihren Kopf in den Backofen stecken und den Backofen anmachenden, wird er auch besser durchblutet. Wenn sie sich hinlegen, dann wird der Kopf auch besser durchblutet. Und wenn sie in den Kopfstand gehen, dann wird der Kopf richtig gut durchblutet.

Also tatsächlich hat unser Gehirn im Grunde genommen genügend Sauerstoff. Wenn es mal nicht genügend Sauerstoff hat, merken Sie das auch relativ schnell, dann fallen Sie in Ohnmacht und kommen so in die horizontale Lage, die den Körper oder das Gehirn wieder mit Blut und Sauerstoff versorgt. Aber mehr heißt nicht mehr. Unsere neuronale Aktivität fordert Sauerstoff, aber der ist eigentlich immer zu Genüge vorhanden. Also dieser Effekt, den man gerne sieht, mal den Kopf mit Blut und mit Sauerstoff anreichern durch Sport und Bewegung, ist eine Mythe. Es geht tatsächlich darum, gezielt Areale abzuschalten durch Bewegung, indem wir uns auf etwas anderes fokussieren.

hr-iNFO: Was passiert denn umgekehrt bei Bewegungsmangel, abgesehen davon, dass die Muskeln kraftlos werden?

Schneider: Wir sprechen heute auch von den sogenannten mentalen Bewegungsmangel-Erkrankungen. Das fängt an mit eine Zunahme von ADHS-Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, Konzentrations-, Aufmerksamkeitsstörungen in der Schule, im Beruf, Stress, Depressionen, Burnout bis hin zu neurodegenerativen Erkrankungen im Alter wie beispielsweise eine Alzheimer-Demenz. All das, wissen wir, hängt mit einem Mangel an Bewegung zusammen.

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Das Gespräch führte Ulrich Sonnenschein.

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