Lehrermangel ABC

In Hessen fehlen so viele Lehrer, dass immer mehr Quereinsteiger in den Klassen stehen und unterrichten. Oft haben sie keinerlei pädagogische Ausbildung. Was bedeutet das für die Qualität unserer Schulbildung? Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass zunehmend Amateure ins Profigeschäft geholt werden?

Petra Bollmann unterrichtet Deutsch, Musik, Mathe und Sachunterricht an der Geschwister-Scholl-Grundschule in Wiesbaden. Sie tritt als Lehrerin vor eine erste und eine vierte Klasse. Aber sie ist keine Lehrerin. Petra Bollmann ist Quereinsteigerin im Lehrberuf, ohne pädagogische Schulung. Und sie lernt sehr rasch, wie schwierig das ist: "Ich bin weit davon entfernt zu sagen, dass ich hier professionell als Grundschullehrerin arbeiten könnte", sagt sie nach elf Wochen Erfahrung in der Schule. "Das habe ich nicht geschafft."

Dafür hat Petra Bollmann etwas anderes geschafft: Sie hat einen realistischen Einblick in den Alltag einer hessischen Grundschule bekommen. Was sie unter ihrem Familiennamen Petra Bollmann an der Geschwister-Scholl-Schule erlebt hat, schildert sie unter ihrem Journalistinnen-Namen Petra Boberg. Petra Bollmann-Boberg hat Germanistik studiert. Aber sie hat keineswegs  Fachkenntnisse in Mathe, Musik und Sachkunde. Vor allem aber hat sie nie gelernt, wie sich Wissen gezielt an Kinder vermitteln lässt.

"Froh, wenn überhaupt jemand den Unterricht übernimmt"

Der steigende Lehrermangel ist der Grund dafür, dass immer mehr Amateure wie sie ins Profi-Geschäft der Lehrer einsteigen. An der Geschwister-Scholl-Grundschule in Wiesbaden, einer Brennpunktschule, arbeiten in einem 24-köpfigen Lehrer-Kollegium sieben Quereinsteiger und zwei Gymnasiallehrer. Mehr als ein Drittel der Lehrer dort sind also keine ausgebildeten Grundschulpädagogen. "Inzwischen sind wir froh, wenn überhaupt jemand als Vertretung da ist und Unterricht übernimmt", sagt Grundschullehrerin Melanie Volmer.

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Das ist mittlerweile Alltag in Deutschland. Dem Land, das Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 zur "Bildungsrepublik" Deutschland machen wollte. Die Geschwister-Scholl-Grundschule ist nur eine von vielen, die schon jetzt keine voll ausgebildeten Lehrkräfte mehr finden.

Mangel mit steigender Tendenz

Bis 2025 werden in der Bundesrepublik laut Bertelsmann-Stiftung mehr als 26.000 Grundschullehrer fehlen. Von 15.000 fehlenden Lehrern sprach die Kultusministerkonferenz der Länder bisher. Die Diskrepanz zwischen beiden Zahlen ist groß. Ein wichtiger Grund dafür sind falsche Prognosen über den Bedarf an Lehrern: Bildungspolitik ist Sache der Bundesländer - und die Länder machen ihre Prognosen über den Bedarf unterschiedlich. Manche besser, manche schlechter. Mittlerweile ist die Erstellung der Prognosen in vielen Bundesländern zwar aktualisiert worden. Aber der Schaden durch die alten Bedarfsanalysen ist längst entstanden: massiver Lehrermangel an Grundschulen.

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Die Gründe: Was hat sich verändert?

Bildungsforscher und die Kultusministerien machen für den Lehrermangel im Wesentlichen fünf Gründe verantwortlich:

  1. Die Zahl der Studienplätze wurde 2004 reduziert, als Bachelor- und Masterstudiengängen eingeführt wurden: weniger Studienplätze, weniger ausgebildete Lehrer.
  2. Seit etwa 2010 rollt eine massive Pensionierungswelle durch die Lehrerschaft.
  3. Seit 2012 steigen, für jeden sichtbar, die Geburtenraten in Deutschland.
  4. Mehr Migranten und Zuwanderer sind nach Deutschland gekommen – sowohl aus EU-Staaten als auch aus anderen Weltregionen.
  5. In vielen Grundschulen wurde Englischunterricht eingeführt. Außerdem die Inklusion und die Ganztagsschule. Das heißt: Immer mehr Aufgaben für die Grundschulen und damit zusätzlicher Personalbedarf.

Diese Ursachen für den Lehrermangel wirken sich in den 16 Bundesländern jeweils unterschiedlich aus - je nachdem, welche Personalanforderungen durch Ganztagsbetreuung oder Inklusion entstehen. Aber alle Länder kämpfen mit den Folgen.

Dennoch wehrt sich Alexander Lorz, Vorsitzender der Kultusministerkonferenz (KMK), gegen den – aus seiner Sicht – "pauschalen Begriff" Lehrermangel. Das sei von "Region zu Region unterschiedlich, von Schulform zu Schulform und letzten Endes auch von Unterrichtsfach zu Unterrichtsfach." Aber auch Lorz räumt ein: "Die Grundschulen beschäftigen uns natürlich in ganz Deutschland im Moment besonders." Und der Vorsitzende der KMK sagt auch: "Wir haben Regionen, ja, da finden die Kultusministerien einfach nicht mehr genug Bewerber für die Plätze."

In der Not ...

Wenn nicht ausreichend Bewerber für die Lehrer-Jobs da sind, dann müssen andere Lösungen her. Dringend. Vor allem an den Grundschulen, denn dort darf laut Gesetz kein Unterricht ausfallen. Aber hier kommt die steigende Geburtenrate zuerst an. Die Grundschulen sind es, die mit den wachsenden Schülerzahlen zuerst konfrontiert werden. Später müssen auch Haupt- und Realschulen sowie die Gymnasien irgendwie Abhilfe schaffen.

Die Antwort der Kultusminister bisher: Sie lassen zunehmend Menschen unterrichten, die keine ausgebildeten Lehrkräfte sind, keine pädagogischen Kenntnisse haben. Sie nehmen außerdem Lehramtsstudenten unter Vertrag, die erst ein paar Semester hinter sich haben. Sie schicken ausgebildete Lehrer aus dem Gymnasialbereich in Grundschulen. Oder sie reaktivieren pensionierte Lehrer.

Aber bis 2025 wird der jetzt schon akute Mangel noch einmal deutlich zunehmen. Zwei Beispiele zeigen die Dimension. Berechnungen des Hessischen Rundfunks (auf der Basis der bei der Bertelsmann-Studie verwendeten Rechenmethode) zeigen: in Nordrhein-Westfalen werden bis 2025 allein im Grundschulbereich 4.463 mehr Vollzeitstellen benötigt als nach KMK-Angaben auf Grundlage zu niedriger Schülerzahlen ursprünglich erwartet. Auch in Hessen kann der Bedarf bis 2025 nicht mit Studienabsolventen gedeckt werden - hier werden an den Grundschulen mindestens weitere 1.945 Lehrer fehlen. Das ergab die Berechnung des hr auf Basis der Zahlen des Hessischen Kultusministeriums.

Wo soll qualifiziertes Personal für diesen Bedarf gefunden werden? Die Ausbildung eines Lehrers dauert durchschnittlich sieben Jahre.

"Belastung der Lehrkräfte ist am Limit"

Schon jetzt ist der Markt für Grundschullehrer vielerorts leergefegt. Die KMK hat festgestellt, dass der Anteil von Quereinsteigern an den Neueinstellungen an deutschen Schulen innerhalb von zehn Jahren von drei auf über 13 Prozent gestiegen ist.  

Mario Michel, Direktor einer Grundschule im hessischen Kirchhain und Vorsitzender des hessischen Grundschulverband, beschreibt seine Lage so: "Ich bemühe mich in erster Linie, die Löcher zu stopfen, damit die Kinder versorgt sind." Das macht er, so gut es geht: An seiner Schule arbeiten Haupt- und Realschullehrer, die in ihrem eigentlichen Arbeitsgebiet keine Jobs gefunden hatten. Er beschäftigt Lehramtsstudenten, die noch im Studium sind. Die ruft er unter anderem an, wenn mal wieder in Windeseile eine Vertretung gefunden werden muss, weil jemand krank geworden ist.

All diese Notlösungen setzen aber die echten Lehrer im Kollegium mächtig unter Druck. Sie müssen die  Aushilfskräfte betreuen und begleiten, so gut es eben geht. Zusätzlich zu ihrem normalen Pensum. Mario Michel sagt deshalb auch: Die Stimmung im Kollegium sei angespannt. "Ich bin seit 2010  hier an der Schule – so was gab's hier noch nie! Die Belastung der Lehrkräfte ist am Limit. Es brodelt." Nicht nur in Kirchhain: 104 Grundschulen haben dem hessischen Kultusministerium Überlastungsklagen geschickt – so viele gab es noch nie.

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Brennpunkt-Schulen besonders betroffen

Stefan Wesselmann ist Landesvorsitzender der Gewerkschaft Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Hessen. Er hält die Grundschulen für die am stärksten belastete Schulform: "Weil das die einzige wirkliche Gesamtschule ist, die wir haben, da gehen alle Kinder rein", sagt er. Alle - das heißt auch viele Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf, Kinder mit schlechten Deutsch-Kenntnissen, Kinder, die zu Hause wenig oder keine Unterstützung für die Schule bekommen.

Schulen an sozialen Brennpunkten werden vom Lehrermangel besonders hart getroffen, meint Stefan Wesselmann. Denn sie hätten es auch bisher schon schwer gehabt, geeignetes Lehrpersonal zu finden. Jetzt seien es diese Schulen, an denen besonders viele Quer- und Seiteneinsteiger unterrichten. Für Hessen gibt es dafür keine belastbaren Zahlen. Aber in Berlin ist in einer Studie nachgewiesen worden, das gerade an Brennpunktschulen besonders viele Quer- und Seiteneinsteiger unterrichten.

Auswirkungen auf Chancengleichheit

Bildungsforscher Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen sagt, der Lehrermangel habe Auswirkungen auf die Chancengleichheit in der Bildung: "Er trifft eher die Schulen in sozial schwierigen Lagen als die Schulen in guten Lagen", meint Klemm. Für seinen Kollegen Jörg Ramseger von der Freien Universität Berlin ist deshalb klar: "Die Opfer stehen ja schon im Vorhinein fest. Es sind die Kinder, die die professionellsten Pädagogen bräuchten."

Zitat
„Die Opfer stehen schon im Vorhinein fest: Es sind die Kinder, die die professionellsten Pädagogen bräuchten.“ Professor Jörg Ramseger, Bildungsforscher Professor Jörg Ramseger, Bildungsforscher
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Viele Grundschulen stehen enorm unter Druck. Und sie sind wichtig für die Bildungskarrieren der Kinder. Ilonca Hardy, Professorin für empirische Bildungsforschung an der Goethe Universität Frankfurt, sagt: "Grundschule ist der Zeitraum, in dem so etwas wie die grundlegende Bildung gelegt wird." Wenn Aushilfslehrkräfte ohne oder nicht mit grundschulspezifischen Pädagogik-Kenntnissen in den Schulklassen eins bis vier unterrichten, können schnell Defizite entstehen. Einfach deshalb, weil die Laien-Pädagogen nicht wissen, wie Kinder lernen, wie sie ihnen das notwendige Wissen vermitteln müssen.

"Leistungen werden sich verschlechtern"

Bildungsforscher Jörg Ramseger erwartet konkrete Folgen des Lehrermangels. Er prognostiziert insgesamt einen Leistungsabfall, weil unzureichend qualifizierte Lehrkräfte eben nicht in der Lage seien, den Kindern das Notwendige beizubringen. "Wir werden steigende Zahlen von Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwäche haben. Wir werden steigende Zahlen von Kindern mit Rechenschwäche bekommen."

Petra Stanat ist Direktorin des Instituts für Qualität im Bildungswesen (IQB) in Berlin. Das IQB überprüft regelmäßig im Auftrag der Bundesländer, inwieweit die von der KMK definierten Bildungsstandards an deutschen Schulen erreicht werden. Zwei Mal hintereinander, 2011 und 2016, hat das IQB feststellen müssen: An Grundschulen sanken die Schüler-Leistungen im Rechnen und in der Orthografie.

Stanat sagt, bisher gebe es keinerlei Untersuchungen darüber, ob der Einsatz von Laien- und Aushilfslehrern Auswirkungen auf die Leistungen der Schüler habe. Ob das negative Konsequenzen haben werde, hänge davon ab, "wie gut die Lehrkräfte begleitet werden, wie gut sie innerhalb der Schulen in kooperative Kontexte eingebunden werden." Soll heißen: Ob die Quereinsteiger von den professionellen Lehrern in die Unterrichtsvorbereitung einbezogen werden. Ob überprüft wird, wie gut ihr Unterricht in der Praxis funktioniert. "Das passiert aber insgesamt noch relativ selten", meint Petra Stanat. "Und ich glaube, wenn das nicht passiert, dann könnte ich mir gut vorstellen, dass wir dann tatsächlich Leistungseinbußen sehen werden."

Qualifikationen für Aushilfskräfte – ein weites Feld

Wenn der Lehrermangel absehbar anhält und wenn weiterhin mit vielen Aushilfen gearbeitet werden muss, dann rückt umso mehr die Frage in den Vordergrund: Was tun die Bundesländer für die Aus- und Fortbildung der Quer- und Seiteneinsteiger? Die Antworten aus den Kultusministerien sind extrem unterschiedlich.

Petra Bollmann-Boberg, die elf Wochen als Laien-Pädagogin in Hessen arbeitete, hätte überhaupt erst nach sechs Monaten Anspruch auf eine Qualifikation gehabt. In Sachsen dagegen erhalten Quereinsteiger vor Beginn ihres Einsatzes drei Monate lang eine Fortbildung, anschließend begleitend ein Mentoren-Programm sowie weitere Seminare. Baden-Württemberg qualifiziert die Quereinsteiger (sie heißen dort Direkteinsteiger) in einer dreijährigen Schulungs- und Bewährungsphase pädagogisch und fachdidaktisch nach. Wer dann die Prüfung besteht, kann in den Schuldienst. Aber lernen die Bundesländer in dieser Frage voneinander?

Angesichts des steigenden Lehrermangels plädieren Bildungsforscher mehr oder weniger unisono dafür, wenigstens bei der Nach-Qualifizierung von Quer- und Seiteneinsteigern Nägel mit Köpfen zu machen. Bildungsforscher Klaus Klemm sagt, es müsse dafür gesorgt werden, "dass keiner in die Schule kommt, der oder die zum ersten Mal nach der eigenen Schulzeit wieder in der Schule steht."

"Noch ein paar herausfordernde Jahre"

Wenn schon Aushilfen, dann gut ausgebildete - und zwar in allen Bundesländern vergleichbar, meint Klemm. "Denn zu meinen, das sei jetzt mal eine Notmaßnahme für ein Jahr, ist ein Irrtum." In diesem letzten Punkt ist sich der Bildungsforscher dann sogar mit Alexander Lorz, dem amtierenden Vorsitzenden der KMK, einig. "Wir werden noch ein paar herausfordernde Jahre vor uns haben". sagt Lorz.

Auf den strukturellen Lehrermangel haben die Kultusministerien unter anderem reagiert, in dem sie die Zahl der Lehramtsstudienplätze mehrfach erhöht haben. Allein in Hessen drei Mal hintereinander. Gute Idee, finden auch Bildungsforscher. Aber die neu ausgebildeten Lehrer stehen erst in einigen Jahren für den Schulalltag zur Verfügung.