Stefan Wesselmann

Als Schulleiter muss Wesselmann dafür sorgen, dass seine Schüler unterrichtet werden. Weil es an Lehrern mangelt, ist er dabei auch auf Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung angewiesen. "Wir brauchen diese Menschen", sagt er. Es müsse aber gewährleistet sein, dass sie entsprechend qualifiziert werden.

hr: Erleben wir gerade eine Bildungskatastrophe in Deutschland?

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Stefan Wesselmann ist Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Hessen.

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Wesselmann: Ich denke, das ist zu dramatisch an der Stelle. Ich würde eher von einer Bildungsmisere sprechen und der Lehrermangel ist ein Teil davon. Wenn ich Bildungsmisere sage, könnte man sagen: 'Kann doch gar nicht sein! Wir investieren doch von Jahr zu Jahr mehr in Bildung in Deutschland.' Aber wenn man sieht, dass der Anteil am Bruttoinlandsprodukt dabei gleichzeitig sinkt, muss man sagen: Okay, da kann noch wesentlich mehr getan werden.

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„Alle Probleme der Gesellschaft sollen durch die Schule gelöst werden. Das steht in keinem Verhältnis zu den Ressourcen, die wir haben. “ Stefan Wesselmann Stefan Wesselmann
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Und gerade mit Blick auf die vielen Aufgaben, die die Politik gerne bei den Schulen ablädt, weil ja alle Probleme der Gesellschaft durch die Schule gelöst werden können, weil ja alle zur Schule gehen - das steht in keinem Verhältnis zu den Ressourcen, die wir haben. Von daher muss man das schon genauer betrachten und kann nicht einfach sagen, wir stecken ja schon mehr Geld in Bildung. Sondern man muss sehen, dass auch die Aufgaben, die Schule bekommen hat, jetzt nicht nur Wissensvermittlung und kompetenzorientiertes Unterrichten, sondern eben auch die vielen Erziehungsaufgaben sind.

Wir sollen Demokratie-Erziehung machen, wir sollen Inklusion machen. Alles das, was unsere Gesellschaft dringend braucht, wird bei uns abgeladen und wir sollen es lösen. Und zwar möglichst in derselben Unterrichtsstundenzahl wie immer. Denn die Stundenzahl der Schülerinnen und Schüler, die Stundentafeln werden ja nicht erhöht. Wir sollen immer noch mehr reinpacken. 

"Grundschulen sind am stärksten belastet"

hr: Über 26.000 Grundschullehrer sollen laut Bertelsmann-Stiftung bis 2025 fehlen. Das heißt, es werden viele Klassen viele Stunden ohne voll-ausgebildete Lehrer unterrichtet.

Wesselmann: Natürlich ist das von außen betrachtet erst mal katastrophal. Wenn man genauer hinschaut, ist das etwas, was bereits jetzt schon der Fall ist. Denn es ist ja seit Jahren im Prinzip unter Bedarf ausgebildet worden.

Und wir haben jetzt schon die Situation, dass erkrankte Kolleginnen und Kollegen und Leute, die sich in Elternzeit befinden, nicht durch voll-ausgebildete Lehrkräfte ersetzt werden, sondern dass wir auch jetzt schon eine große Anzahl an Quer- und Seiteneinsteigern haben – also Menschen mit einem Fachstudium oder solche, die überhaupt gar kein Studium haben, denen es also an fachlichen Grundlagen und an der Pädagogik fehlt. Und die aber teilweise im Pflichtunterricht eingesetzt sind, die Schülerinnen und Schüler bewerten, benoten und damit auch Einfluss haben auf Versetzung oder Nichtversetzung und auf die Bildungsabschlüsse, die dann da irgendwo am Ende stehen.

hr: und das ist …?

Wesselmann: Katastrophal! Jetzt haben Sie mich doch. 

hr: Trifft der Lehrermangel die Grundschulen besonders hart?

Wesselmann: Die Grundschule ist die am stärksten belastete Schulform überhaupt, weil es die einzige wirkliche Gesamtschule ist, die wir haben. Denn da gehen alle Kinder rein. Da haben Sie von jenen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf bis hin zu den Hochbegabten wirklich alle Facetten. Da sind natürlich die Pädagogik und die Fachvermittlung sehr gefragt. Also nicht nur das Fachwissen, sondern ich muss es ja auch ans Kind bringen. Das heißt, da muss ich auch ein großes didaktisches Wissen haben.

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„Es nutzt mir nichts zu wissen, wie das Einmaleins geht. Ich muss es auch ans Kind bringen.“ Stefan Wesselmann Stefan Wesselmann
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Es nutzt mir ja nichts zu wissen, wie das Einmaleins geht, sondern ich muss den Schülerinnen und Schülern die Mathematik auch als System schon in der Grundschule vermitteln. Und wenn ich das versäume, kann die weiterführende Schule darauf nicht aufbauen. Kinder müssen die Mathematik auch schon in der Grundschule als System begreifen. Und das geht nur, wenn ich da vorne einen Menschen stehen habe, der nicht nur fachwissenschaftlich fit ist, sondern auch fachdidaktisch.

"Quereinsteiger brauchen Fortbildungsangebote"

hr: Gibt es Kinder, die der Lehrermangel mehr trifft als andere?

Wesselmann: Ich denke, die höchste Betroffenheitsrate haben wir bei denjenigen, wo Schule im Elternhaus keine Rolle spielt. Denn wir haben ja häufig die Situation, wenn in einer Klasse zum Beispiel über mehrere Wochen durch Krankheit kein adäquater Ersatz da ist, viele Eltern zu Hause versuchen, das inhaltlich aufzuarbeiten. Aber wir haben halt auch viele Elternhäuser, wo Schule am Nachmittag überhaupt keine Rolle spielt, wo Eltern das auch nicht wichtig ist. Und wenn es dann am Schulvormittag fehlt und es nirgendwo die Chance gibt, noch nachzuhelfen, dann haben wir die richtigen Verlierer an der Stelle.

hr: Der Bildungsexperte Jörg Ramseger ist dafür, keine Quer- und Seiteneinsteiger in den ersten beiden Klassen einzusetzen, weil man dort die besten Pädagogen brauche. Stimmen Sie dem zu oder ist das aus der Sicht eines Schulleiters nicht umsetzbar?

Wesselmann: Wenn ich das an meiner eigenen Schule sehe: Wir haben auch Quereinsteiger, die wir aber nur in gewissen Fächern einsetzen. Also nicht in Deutsch, Mathe, Sachunterricht. Ich möchte jetzt Fächer wie Musik und Kunst nicht abwerten. Aber wir sehen schon, dass wir gerade in den Hauptfächern mehr Chancen vertun oder auch mehr Schaden anrichten würden. Ich würde es gar nicht mal so an der Jahrgangsstufe festmachen, wobei es natürlich in Klasse eins und zwei sinnvoll wäre, wie überhaupt in allen Stufen eigentlich, dass voll-ausgebildetes Personal den Unterricht macht. 

Ich würde es auch an der Lerngruppe festmachen, die vielleicht besondere Herausforderungen hat. Ich denke, das ist alles etwas, was man im Blick haben muss: Wo man die Menschen einsetzt, die das pädagogische Handwerkszeug nicht haben, um zu gucken, dass am Ende allen geholfen ist. Denn wir sind froh, dass wir Menschen haben, die uns bei unserer Arbeit unterstützen. Wenn ich mich jetzt als Lehrergewerkschafter hinstellen würde und sagen würde, wir wollen hier überhaupt keine Menschen, die das nicht von Grund auf gelernt haben, da würden wir uns ja auch ein Stück ins eigene Fleisch schneiden.

Wir brauchen die Menschen. Aber das Problem ist, dass sie dann auch entsprechend qualifiziert werden müssen. Sie müssen Unterstützung bekommen, sie müssen Fortbildungsangebote bekommen. Und, was ganz selbstverständlich an den Schulen passiert, was aber auch von der Politik überhaupt nicht so gewertschätzt wird, ist, dass sie im Prinzip auch Mentorinnen und Mentoren brauchen im Kollegium.

Das heißt, die voll-ausgebildeten Lehrkräfte müssen sich nicht nur um ihre eigene Arbeit kümmern, sondern auch um diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die eben keine ausgebildeten Lehrkräfte sind. Was aber natürlich wieder eine zusätzliche Belastung ist. Also das ist ein sehr komplexes Problem.

"Die Politik hat's verbockt"

hr: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass so viele Lehrer fehlen in Deutschland? Wer hat’s Ihrer Meinung nach verbockt?

Wesselmann: Wenn ich sage, die Politik hat's verbockt, wäre das natürlich sehr pauschal. Aber das ist schon so. Denn die Politik - und damit meine ich jetzt nicht die hessische Landespolitik, sondern insgesamt -  hat jahrzehntelang die Lehrer-Einstellungen nicht nach Bedarf vorgenommen, sondern nach Kassenlage beziehungsweise nach politischen Setzungen: also welche Landesregierung eben gerade welche Schwerpunkte gesetzt hat. Da wurden dann mal mehr Lehrer eingestellt, es gab Einstellungsstopps und so weiter. Das Ganze war nie orientiert an einem tatsächlichen Lehrerbedarf, sondern eher an politischen Ausrichtungen oder ganz schnöde an der Kassenlage.

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„Das Ganze war nie orientiert an einem tatsächlichen Lehrerbedarf, sondern an politischen Ausrichtungen oder der Kassenlage.“ Stefan Wesselmann Stefan Wesselmann
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Davon sind wir jetzt endlich insofern ein Stück weggekommen, dass es jetzt mal wirklich Bedarfsanalysen gibt. Die sind leider noch nicht so treffgenau, wie man sie braucht - siehe KMK-Analyse und das, was Bertelsmann dann nachgeschoben hat. Auch da gibt es noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Aber man hat das jetzt offensichtlich endlich erkannt.

Dazu war dann der Lehrermangel jetzt schon mal gut, dass man erkannt hat, dass wir die Sache nicht einfach nach Kassenlage gestalten können, sondern dass wir wirklich schauen müssen: Wie sind die Prognosen? Wie viel werden wir brauchen? Wie viele werden wir bis dahin haben? Wie groß ist das Delta? Und was können wir da tun?

Leider bedurfte es dazu des bundesweiten Lehrermangels, den wir als VBE schon zehn, fünfzehn Jahre mindestens vorhergesagt haben. Es ist leider schade, wenn man an der Stelle sagen muss, wir haben recht behalten. Also es hat an der Stelle nicht unbedingt eine Landespolitik alleine versagt, sondern das war insgesamt die Situation, wie Lehrer-Einstellungen in der Vergangenheit betrieben wurden.

"Es ist sehr komplex"

hr: Es gibt aber ja Unterschiede von Bundesland zu Bundesland. Bayern beispielsweise hat die Bedarfsanalysen besser gemacht als viele andere. Bildung ist ja Ländersache, die hessische Politik  spielt also auch eine Rolle.

Wesselmann: Genau, da sprechen Sie den Punkt an, warum es so schwer ist, die KMK- und Bertelsmann-Zahlen zu übersetzen in die Situation in einem Bundesland. Denn das sind Zahlen, die deutschlandweit erhoben worden sind, die aber überhaupt nicht abbilden, wie es in den einzelnen Bundesländern aussieht. Denn da wurde in der Tat in den letzten Jahren ganz unterschiedlich gewirtschaftet. Und da kann man schon auch sehr positiv herausheben,  dass Kultusminister Lorz jetzt schon länger versucht, mehr Lehrer ins System zu bringen, obwohl die Schülerzahlen zurückgehen.

Aber diese Ausweitung der Studienplätze an den Universitäten, das hätte einfach vier, fünf Jahre früher passieren müssen. Aber damals ging man eigentlich noch von der sogenannten demografischen Rendite aus. Also es ist zu komplex, um einfach zu sagen, der oder die hat Schuld.

Andere, aber gleichwertige Arbeit

hr: Grundschullehrer bekommen immer noch weniger Gehalt als andere Lehrer. Müsste man hier auch ansetzen?

Wesselmann: Das müsste ganz, ganz grundsätzlich geändert werden. Wir haben Ungleichheiten, die immer noch damit begründet werden, dass die Studienlänge nicht gleich ist. Wenn Sie die Studienordnung anschauen: Grundschullehrkräfte haben so wie die Haupt- und Realschul-Lehrkräfte auch eine Regelstudienzeit von dreieinhalb Jahren. Haupt- und Realschul-Lehrkräfte werden aber in A 13 eingruppiert, Grundschullehrkräfte mit derselben Regelstudienzeit in A 12. Da kann man mit der Studienlänge eigentlich nicht mehr argumentieren.

Es ist wirklich einfach historisch tradiert, und dieser Zopf gehört dringend abgeschnitten. Aber da haben wir natürlich in der Politik große Widerstände, weil da das sogenannte Abstandsgebot der Gymnasiallehrkräfte immer wieder ins Feld geführt führt wird. Und das ist eine Diskussion, die am Thema vorbei führt. Natürlich ist das an der Grundschule eine andere Arbeit, aber sie ist gleichwertig!

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Das Interview führte Stefan Bücheler.

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